Ich starrte mit leerem Blick in die flackernde Flame der Kerze, die der Kellner bei unserem Eintreffen für uns entzündet hatte. Die Stimmen der anderen drangen nur wie durch eine dicke Betonwand gedämpft zu mir durch. Am liebsten wäre ich gerade an einem ganz anderen Ort, einem Ort der kilometerweit entfernt von ihm war. Mir war eiskalt, obwohl es in der Gaststätte gar nicht kalt sein konnte. Wir hatten heute eine Außentemperatur von fast dreißig Grad, was die freizügig angezogenen Menschen an den Nachbartischen bestätigten. Und trotzdem war mein gesamter Körper von einer Gänsehaut überzogen.
Ich zog die Ärmel meiner dünnen Strickjacke bis über die Hände, mein Freund warf mir einen kurzen besorgten Blick zu, widmete sich dann aber schnell wieder unseren Nachbarn, die uns als Dankeschön zum Essen eingeladen hatten. Sie waren die letzten beiden Wochen im Urlaub gewesen, weshalb wir uns um ihre Wohnung gekümmert hatten, wobei man das „Wir" eher durch ein „Ich" ersetzten könnte, denn mein Freund hatte nicht wirklich geholfen. Ich bin nach meiner Arbeit jeden Tag noch nach nebenan gegangen und habe nach dem Rechten gesehen oder die Blumen gegossen, obwohl er den ganzen Tag Zuhause war und nichts zu tun hatte.
Bei dem Gedanken daran und unserem Streit von vorhin, begannen meine Augen gefährlich zu brennen. Die Kerze vor mir erschien plötzlich nur noch verschwommen durch den Fluss an Tränen, der drohte überzulaufen. Zu allem Überfluss legte mein Freund genau in diesem Moment zärtlich seinen Arm um mich, so als wäre nichts passiert, und brachte damit das Fass zum Überlaufen. Ich schlug ihn weg und stand auf, die Tränen strömten mittlerweile über mein Gesicht, mein Herz krümmte und wand sich vor Schmerz. Ja, Masken beherrschte er ausgezeichnet. Niemand sollte erfahren, wie es ihm wirklich ging und wie schrecklich es in ihm oder der Beziehung aussah. Das gute Paar spielen war ganz nach seinem Geschmack, aber ich konnte das nicht mehr.
Mit hunderten von neugierigen oder besorgten Augen im Rücken verließ ich stürmisch den Raum. Eine weinende Frau, was für ein Spektakel für die Gesellschaft. Wie konnte man denn so schwach sein und seine Gefühle in aller Öffentlichkeit zeigen? Das Denken einer Gesellschaft, die kaputt machte.
Emotionen, auch negative, waren menschlich, doch alle hatten das Bild aufgedrückt, dass man Tänzer auf einem Maskenball sein musste, um nicht aus der Norm zu fallen. Dabei fiel niemandem auf, wie schädlich dieses von der Gesellschaft aufgedrückte Bild für die Seelen der Menschen war. Weinend rannte ich in den Park, der gleich neben dem Restaurant war und ließ mich schließlich auf einer Bank am Teich nieder. Die Sonne, die mir warm ins Gesicht schien, brannte auf meinen Wangen. Auch ihre Wärme vermochte die Kälte in mir nicht zu vertreiben, die seit einigen Tagen mein ständiger Begleiter war.
Auf dem Teich schwammen scheinbar unbekümmert einige Enten seelenruhig.
Ich beobachtete sie eine Weile, bis sich plötzlich ein alter Mann neben mich auf die Parkbank setzte. Ich lächelte ihn freundlich an und sah dann zurück zum Wasser.
„Ist alles in Ordnung?", fragte er plötzlich ungeniert. Ich setzte schon mit der Lüge an, die ich in den vergangenen Tagen schon so oft aufgetischt hatte, dass ich sie eigentlich schon fast selber glauben musste, schüttelte aber schlussendlich den Kopf.
„ Nein, eigentlich nicht." Meine Stimme hörte sich weinerlich an, doch ich schämte mich zum ersten Mal seit Langem nicht dafür.
„Möchten Sie mir denn erzählen, was Sie beschäftigt?, fragte er und sah mich gutmütig und irgendwie auch mutmachend an. Ich brauchte nicht lange überlegen, da quollen die Worte förmlich aus mir heraus, die mir schon die ganze letzte Woche auf der Seele drückten. Ich erzählte von unserem Streit und wie verletzt ich von den Worten meines Freundes war. Der alte Mann hörte mir geduldig und aufmerksam zu ohne eine Miene zu verziehen oder mich zu unterbrechen. Während ich mir alles von der Seele redetet, spürte ich, wie eine Last von mir fiel. Ich erzählte ihm auch von dem Gedanken, mich zu trennen. Denn warum tat ich mir das eigentlich noch an? Als ich fertig war, waren alle Tränen versiegt. Ich sah ihn erwartungsvoll an. Der Mann lächelte mich nach wie vor wertfrei an, ungewöhnlich. Die meisten Menschen hätten das Erzählte bereits innerlich bewertet und das auch nach außen gezeigt.
„Erleichternd oder?", fragte er. Ich nickte.
„Reden befreit."
Ich nickte wieder zustimmend. Mir ging es viel besser, als vorhin.
„Und ist der erste Schritt."
„Der erste Schritt zu was?", fragte ich verwirrt. Ich konnte ihm nicht ganz folgen. „Verzeihen."
„Ich weiß gar nicht, ob ich das will. Verdient hat er es nicht." Ich verschränkte die Arme widerspenstig vor der Brust.
Der alte Mann nickte verständnisvoll und griff in seine Jackentasche. Zum Vorschein kam ein Smartphone, dessen Lederhülle auch schon seine besten Tage gesehen hatte. Ohne ein weiteres Wort begann er auf seinem Handy zu scrollen. Wie unhöflich, dachte ich und sah eingeschnappt wieder zu den Enten. Wenn ich nichts verpasst hatte, war unser Gespräch noch nicht beendet gewesen.
Eine Weile saßen wir wieder wortlos nebeneinander, dann wurde ich doch etwas neugierig und schielte auf den Bildschirm. Erschrocken zuckte ich zurück. Was und wie um alles in der Welt...? Ich sah den alten Mann entgeistert an. „Was ist das?", fragte ich hysterisch und blickte voller Scham auf die Reel, die er nacheinander abspielte. Reels, die mich in jeglichen Situationen zeigten, die ich am liebsten aus meinem Leben gestrichen hätte. Denn es waren alles Momente, in denen ich geliebte Menschen sehr verletzt hatte.
„Das wissen Sie nicht?", fragte er zurück ohne von seinem Screen aufzuschauen. Ich sah mich hektisch um, zum Glück schenkte uns niemand Beachtung.
„Warum sehen Sie sich das an und woher haben Sie das überhaupt?"
„Aus der Vergangenheit. Wissen Sie warum die Aufnahmen dort waren?"
Ich schüttelte den Kopf. Der alte Mann nickte wissend.
„ Diese Momente gehören in die Vergangenheit, weil Ihre Mitmenschen beschlossen haben, sie dort zu lassen und nach vorn zu sehen. Zwischenmenschliche Beziehungen leben von Entschuldigungen und Vergebung. Kein Mensch ist perfekt, meine Liebe.
Ich wollte noch etwas erwidern, aber von dem Mann fehlte plötzlich jede Spur.