V i e r u n d z w a n z i g

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In wie viele Kartons kann man sein Leben packen?

In Nicoles Fall sind es über zwanzig. Ich bin gerade dabei, Karton Nummer neun auszupacken (warum zur Hölle besitzt sie einen Brotbackautomaten?), als Nicole schon mit dem nächsten ins Zimmer kommt. Ächzend stellt sie Karton Nummer 14 auf dem Boden ab und lässt sich schwer atmend auf das alte Cordsofa fallen, das sie ihrer Vormieterin abgekauft hat.

Es gibt definitiv spannendere Arten, seinen Samstag zu verbringen, aber ich bin dankbar für die Ablenkung. Die Alternative wäre gewesen, verkatert im Bett zu liegen, mir die Decke über den Kopf zu ziehen und kläglich bei dem Versuch zu scheitern, den gestrigen Abend zu vergessen. In Wahrheit hätte ich nämlich die Ereignisse wieder und wieder in meinem Kopf durchgespielt und mich in Selbsthass und Selbstmitleid zerfleischt.

Ich reibe mir übers Gesicht, versuche, die in mir aufsteigende Übelkeit zu ignorieren. Wenigstens beginnt die Kopfschmerztablette langsam zu wirken.

Michael, ein schmaler Typ mit rotblonden Haaren und Sommersprossen, stapelt noch einen Karton auf den wachsenden Berg. Währenddessen hilft mir Johanna, Nicoles Kollegin und zweite Mitbewohnerin, beim Auspacken. Das heißt, eigentlich hatten die beiden keine Wahl, nachdem Nicole sie mit ihrem flehentlichen Hundeblick weichgekocht hat. Die Frau kennt wirklich keine Scham. Ich frage mich zum ungefähr hundertsten Mal, wie es eigentlich sein kann, dass wir verwandt sind.

Ich runzele die Stirn, als ich die neueste Entdeckung aus Umzugskarton Nummer zehn ziehe: ein Waffeleisen in Einhornform. Ernsthaft? Ich schüttle den Kopf und will sie gerade fragen, was zur Hölle sie damit vorhat – spontane Sonntagsbrunchs mit magischen Fabelwesen? – da klingelt mein Handy. Ein Blick auf den Bildschirm, und mein ohnehin schon flauer Magen verkrampft sich.

„Hey, Pascale."

„Girl, du lebst ja noch! Wo warst du gestern Abend? Ich hab dich gar nicht mehr gesehen."

„Als ich dich und Lukas nicht gefunden hab', hab' ich mir ein Taxi gerufen", murmele ich. Dass ich mich davor 20 Minuten auf der Toilette versteckt habe, um sicherzugehen, dass ich Elias nicht über den Weg laufe, verschweige ich ihr.

„Ah, stimmt," höre ich sie grinsen. „Lukas hat meine volle Aufmerksamkeit gebraucht," sie macht eine vielsagende Pause, „wenn du weißt, was ich meine." Ja, ich weiß, danke für das Kopfkino. Ich verziehe das Gesicht.

„Aber hey, wie wär's, wenn wir uns später im Condesa treffen?", fragt Pascale. Das Condesa ist unser Mexikaner des Vertrauens. Neben den besten Quesadillas gibt es noch einen weiteren unschlagbaren Grund: Jeden Samstag ab 17 Uhr ist Happy Hour.

„Ernsthaft? Bist du gar nicht verkatert?", frage ich schockiert. Kennt diese Frau kein Erbarmen? Allein bei dem Gedanken an Alkohol... nein, besser nicht darüber nachdenken.

„Klar bin ich verkatert. Aber hat uns das jemals von einer Happy Hour abgehalten?" Guter Punkt.

„Na gut, überredet", seufze ich. Es hat sowieso keinen Sinn, mit Pascale zu diskutieren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Und hey, es gibt ja auch alkoholfreie Cocktails. „Ich bin hier noch mitten im Umzugschaos mit Nicole, aber bis heute Abend sollten wir durch sein."

Ich zögere bei meinen nächsten Worten. Die Chancen stehen 50:50, dass ich meine nächsten Worte bereuen werde, aber: „Sag mal, wäre es okay, wenn meine Schwester mitkommt? Es ist ihr erster Abend in München und sie kennt hier noch niemanden."

Ich werfe einen schnellen Blick zu Nicole, die gerade dabei ist, das Zimmer zu verlassen und bei meinen Worten abrupt inne hält. Die Überraschung in ihrem Gesicht, gefolgt von echter Dankbarkeit, versetzt mir einen Stich.

Am anderen Ende bleibt es ein paar Sekunden still. „Ich schätze, ich sollte mich besser daran gewöhnen, dass deine Schwester ab sofort immer dabei sein wird." Es liegt eine gewisse Schärfe in ihrer Stimme. Ich überhöre den leisen Vorwurf und wie sie das Wort immer betont. „Danke, Pascale, ehrlich! Dann reserviere ich für drei Personen. Treffen wir uns um 19 Uhr vorm Eingang?"

Pascale willigt ein, und wir verabschieden uns.

Seufzend lege ich auf. Ich weiß ja selbst nicht, ob es eine gute Idee ist, Nicole und Pascale zusammenzubringen. Aber Pascale hat recht: Sie wird sich daran gewöhnen müssen, dass meine Schwester von jetzt an in München lebt. Und ich genauso. Außerdem besteht immer noch die Möglichkeit, dass Nicole absagt – dass sie den Abend lieber mit ihren neuen Mitbewohnern verbringen will statt mit ihrer nervigen kleinen Schwester und ihrer nervigen besten Freundin.

Nein, diese Möglichkeit besteht offenbar nicht. 

Als ich Nicole später von unseren Plänen erzähle, strahlt sie und ist begeistert von der Idee, den Abend mit Cocktails und mexikanischem Essen ausklingen zu lassenUnd das, obwohl ich sie vorgewarnt habe, dass Pascale mitkommen wird.

Nach zwei Stunden sind die meisten Kisten ausgepackt, und ich fahre nach Hause, um mich kurz frischzumachen. Während der Tramfahrt beginnt mein Magen sich zusammenzuziehen. Was zur Hölle war das für eine Schnappsidee? Wie konnte ich auch nur einen Moment lang glauben, dass es eine gute Idee sei, Pascale und Nicole an einem Tisch zu versammeln? Es werden meine zwei Welten aufeinanderprallen, die ich seit einem Jahr strikt voneinander getrennt halte – und das aus gutem Grund. Doch der Abend muss nichts zwingend in einem Desaster enden, versuche ich mir selbst gut zuzureden. Vielleicht ist das der Anfang von etwas... etwas Schönem? Einer wunderbaren Freundschaft? Ich seufze. Wem will ich hier eigentlich etwas vormachen? In jedem Fall dürfte der Abendinteressant werden.

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt