Nach dem Tornado/ die Sache mit der Realität

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In einem Moment noch überschlagen sich Gedanken, Emotionen und Ideen, im nächsten Moment herrscht gespenstische Stille. Jegliches Zeitgefühl ist abhanden gekommen, also wer weiß, vielleicht war der Moment auch kein Augenblick, sondern ein längerer Zeitraum. Vielleicht ist es unser Gehirn, welches zu unglaublichen Dingen fähig ist, aber vielleicht ist auch alles nur bestimmt durch Chemie. Vielleicht ist für manche Menschen das gesamte Leben nur abhängig von kleinen bunten Pillen voller chemischen Substanzen. Für den einen gibt es nur eine Realität, einen Blick auf seine Umwelt, für den anderen scheint es Unmengen an Realitäten zu geben. Der eine ist sich dessen bewusst, dass alles was er tut, was ist, was sein wird von ihm selbst abhängt und abhängen wird. Und für den anderen scheint es unmöglich zu differenzieren was tatsächlich sein eigen und was fremdgesteuert ist. Ist das Leben wie man es kennt nur eine einzige Lüge? Ist alles was man selbst ist, nichts weiter als ein Fehler unendlich vieler Neuronen? Wer belügt sich hier tatsächlich? Der, der zu wissen scheint, das alles in den eigenen Händen liegt, dass es nur eine einzige Realität gibt, oder der, der beginnt anzuzweifeln ob irgendetwas real ist. Krank ist der, der sich krank nennt. Aber bricht man sich ein Bein und leugnet es, so bleibt ein gebrochenes Bein nun doch am Ende ein gebrochenes Bein und benötigt einer besonderen Umstellung.
Es scheint nur eine einzige Realität zu geben, das Vertrauen riesig und es schenkt uns Sicherheit. Alles ist richtig, alles ist okay. Und eines Tages bricht diese Welt in sich zusammen, eines Tages spaltet sich diese vertraute Realität und man stürzt in reißende Flüsse der Verunsicherung, des Misstrauens. Ist es möglich das eine Person in zwei oder drei Realitäten leben kann? Ich würde sagen ja. Wir haben unsere Realität in der wir uns sicher fühlen. Und plötzlich zerreißt ein Tornado sämtliche Strukturen unseres Gehirns, unseres Denkens. Und plötzlich sind wir von alledem so furchtbar ausgelaugt, werden innerlich zerfressen von einer tiefen schmerzenden Dunkelheit. Aber es ist nicht so, als würde man sich wirklich dessen bewusst sein, dass man in verschiedenen Realitäten lebt. Rückblickend, sicherlich. Aber wer stellt in einem glücklichen Moment seine Welt infrage? Umso mehr tun wir das verzweifelt in all der Hoffnungslosigkeit. Und in der Neutrale, wen kümmert es da schon.
Der Tornado ist so faszinierend, so wunderbar und so gefährlich zugleich. Seine zerstörerische Kraft ist so anziehend, seine Konsequenzen so abschreckend. Wie eine Droge- wir wollen das volle Ausmaß dessen haben was uns gefällt, das Adrenalin, das Spiel mit dem Feuer, aber keiner von uns möchte die Konsequenzen tragen. Und um diese nicht tragen zu müssen flüchten wir uns in den nächsten Trip, sehnen in fast schon herbei.

10. September
Kirmes im Kopf. Zu bunt, zu grell, zu laut, zu viel. Verliere ich den Verstand, oder tut es die Welt? Alles geschieht wie im Traum, in Trance, so weit weg, so irreal. Morgen vergesse ich, was gestern geschehen. Warm durchflutet es meinen Körper, kribbelnd. Ich stehe unter Strom, wie unter Drogen, vergesse meine eigene Existenz. Das Herz in meiner Brust beginnt zu stechen, zu stolpern. Wann schlug es das letzte mal in Ruhe? Doch ist's nicht von Belang, geht es mir doch gut, erfreue ich mich all der Farben, all dem Lärm, drehe mich mit meinem Kopf im Kreis. Immer schneller, immer lauter, immer mehr. Ohne Hunger, ohne Müdigkeit, ohne Gefühl der Temperatur. Oh, was könnt ich alles tun! Mit all dieser Energie, all diesen Ideen... sag, seit wann strahlt die Welt so farbenfroh? Will mich bewegen, meine Ideen heraussprudeln lassen. Vergesse alle Gesetze der Biologie, verliere das Mögliche aus den Augen. Genieße das Hoch, denke an kein Tief. Lache und Lebe, weit über jede Grenze. Drehe mich immer schneller, die Farben immer greller, alles wird immer lauter und dann- bleibe stehen. Atme. Mein Kopf droht zu platzen in all seinen Ideen. Kein Gedanke bleibt lange genug als das man ihn hätte greifen können. Mein Herz pocht, es schreit nach Pause. Die Luft scheint drückend schwer, das Loch im Magen pulsiert. Die Ideen drücken von innen gegen meinen Kopf, wollen die Mauern sprengen. Meine Haut brennt wie Feuer. Ich stehe in Flammen, die Welt dreht sich viel zu schnell und mir wird schwindelig. Ich verliere die Orientierung, stürze zu Boden. Wann habe ich zuletzt geschlafen? Gegessen? Bin zur Ruhe gekommen? Ich ringe nach Luft, wird mir bewusst, dass ich mehr Energie ausgab als mir jemals zur Verfügung stand. Und auch wenn langsam, schleichend langsam, ein Stück Erkenntnis kommt, es ist noch nicht vorbei. Und die Kirmes im Kopf ist keine Kirmes und nie gewesen, sie ist ein Gefängnis. Ein Tornado, der alles in sich verschlingt, droht, alles niederzureißen.

Die Müdigkeit übernimmt die Kontrolle, der Körper fordert zurück, was man ihm genommen. Tiefer Schlaf senkt sich über den Körper, über die Gedanken und Gefühle, selbst in wachem Zustand. Und kurz scheint es wieder gut zu sein, man beginnt zu begreifen das alles nur ein Tornado war. Nur eine weitere Form der Realität. Aber noch ehe man richtig begriffen hat, sich erholt hat, übernimmt schon die nächste Realität die Kontrolle. Eine schwere bleierne Dunkelheit. Zweifel, Ängste. Tränen, die keinen Weg nach draußen finden und drohen, dassman von innen ertrinkt. Kein Schmerzreiz von außen scheint auch nur Ansatzweise stark genug sein zu können um zu beruhigen was sich im inneren abspielt. Und eine Weile funktioniert man noch. Und dann beginnt man zu begreifen, das man völlig auf sich alleine gestellt ist. Denn funktioniert man nicht mehr, so wird das Umfeld verärgert, spielt es die Umstände herunter, versucht, von einer Realität zu überzeugen die einfach nicht da ist. Nicht nach dem Tornado. Was bringt schon ein „Zähne zusammenbeißen, es wird schon alles werden" oder ein „jetzt gib doch den Tabletten erstmal eine Chance" ? Was bringt jetzt noch ein „Wir kennen das doch alle, man macht eben weiter" oder ein „ Selbstmitleid hilft jetzt auch nicht" ? Sicher, das tut es nicht, aber es ist auch keines da. Nur der Versuch nach Hilfe zu fragen, nach Verständnis zu suchen. „ Was brauchst du jetzt?" wäre sicherlich hilfreicher. Und ich für meinen Teil würde antworten: „ Ruhe, ich sehne mich nach nichts weiter als Ruhe. Gib mir ein vielleicht zwei Wochen, gib mir Zeit für eine Pause. Hör mir zu, ohne mit Ratschlägen um dich zu werfen." Aber das würde ja bedeuten, dass man in ihre Realität nicht mehr hineinpasst. Als wäre ihre Realität die einzig wahre. Ihre Realität existier für mich nicht und hat es vielleicht nie. Meine Realität besteht aus Tornados, aus einer Kirmes im Kopf, aus bunten Ideen und einem Gefängnis, einer alles zunichte machenden Dunkelheit. Die Lösung des Problems? Tabletten. Tabletten über Tabletten. Diagnose über Diagnose. „Ich bin hier!" will ich schreien, „Lasst mich raus, lasst mich los!" Aber niemand wird es hören. Denn die Lösung ist, den Körper als Gefängnis entstehen zu lassen. Dicke Mauern, durch welche die Schreie nicht mehr dringen. Nun wirken wir normal, wie alle anderen auch, passen in die vermeintlich einzige Realität. Vielleicht ist der Tod nur der Eintritt in eine weitere Realität.
Ich lasse meinen Blick über all die Trümmer gleiten. Unmöglich etwas daraus zu basteln. Tabletten lösen Probleme, aber Drogen sind Teufelszeug. Wenn sie doch Probleme lösen, sag mir, wieso spüre ich noch immer diese Traurigkeit? All die Ängste? Wieso ist der Tornado jetzt leise, aber immer noch so lange da gewesen?

19. Dezember
Was stimmt nicht mit mir? Immer und immer wieder hallen diese Gedanken durch meinen Kopf wie in einer großen leeren Halle. Wie in einem Nebel. Ich schaue mich um, aber alles scheint so unerreichbar weit weg. Alles scheint so unrealistisch. So bedeutungslos. Die Geräusche, sie klingen wie unter Wasser, verstummen zunehmend. Als würde mich etwas zerreißen, als würde ich ertrinken und das Bewusstsein verlieren. Als hätte mich jemand ins Wasser gestoßen, ich sehe wie die Oberfläche sich immer weiter entfernt. Stimmen werden immer leiser. Alles wird immer dunkler und kälter. Ich wehre mich nicht, versuche nicht, zu schwimmen. Ich sinke einfach immer tiefer in unbekannte Tiefen. Ich bin so erschöpft, will die Augen einfach schließen. Vielleicht wartet am Ende des Sinkens ja Frieden. Vielleicht wird die Stille ja erträglicher. Lache ich noch? Oder ist meine Mimik bereits erstarrt? Funktioniere ich noch? Oder bin ich bereits stehen geblieben? Alles scheint ein Automatismus, ich scheine nicht mehr in der Lage selbst zu agieren. Immer wieder keimt die Angst auf, rollt in einer Träne herunter und weicht wieder der tiefen Stille. Was war nur falsch mit mir? Warum funktionierte ich nicht? Warum schwamm ich nicht? War noch etwas von Bedeutung? Wie tief war ich schon gesunken? Wo war der Boden? Wie tief würde ich noch sinken? Und mit jedem Meter den ich sank schien es hoffnungsloser die Oberfläche zu sehen. Also schloss ich die Augen und erstarrte in der Stille.

Wenn es nur die eine wahre Realität gibt, dann sag mir, was sind das für andere Möglichkeiten der Realität? Sicher, dass es lediglich Hirngespinnste sind, dass ich mir alles nur einbilde? Einfach nicht richtig laufe im Stübchen da oben? Oder ist es nicht genauso wahrscheinlich, dass du lediglich deine Augen verschließt vor den anderen Möglichkeiten der Realität, weil sie dir Angst einjagen? Glaube mir, jedes einzelne Mal jagen sie mir Angst ein. Und doch würde ich ein gebrochenes Bein niemals leugnen. Also sag mir: wer von uns beiden ist der Lügner? Wer von uns beiden ist jetzt der, mit der „wahren" Realität? Ich habe ihn gespürt, den Tornado. Ich begegnete der unendlichen Dunkelheit. Aber ich kenne auch deine Realität. Aber deine Realität zerfrisst mich auf langen Zeitraum genauso, schmeckt wie Gift. Lässt mich nur zurück in einem Zustand der Überarbeitung und Erschöpfung. Und der Kreis beginnt von vorne. Tornado, Dunkelheit, hyper-funktionieren. Tornado, Dunkelheit, hyper- funktionieren. Immer und immer wieder. Ohne das ein Ende in Sicht ist und da werden auch deine kleinen bunten Pillen nichts mehr retten können.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 25 ⏰

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