Der Wagen rollte langsam durch die schmalen, schneebedeckten Straßen von Boston. Die Stille im Auto war erdrückend, nur das gelegentliche Knirschen des Schnees unter den Reifen war zu hören. Jay saß auf dem Rücksitz, die Hände fest ineinander verschränkt, seine Gedanken drehten sich nur um Sam. Vor ihm saßen Richard und Mason, beide angespannt, doch äußerlich ruhig, ihre Blicke fest auf die Straße gerichtet. Der Schnee fiel leise, legte sich wie eine dünne Decke über die Stadt, und die Kälte kroch durch den Wagen, obwohl die Heizung aufgedreht war.
»Da vorne«, sagte Richard leise und deutete auf eines der typischen Mehrfamilienhäuser in der Innenstadt. Es war ein altes, dreistöckiges Gebäude, die Fassade bröckelte und das Licht im Treppenhaus flackerte schwach hinter den Fenstern. Richard parkte den Wagen am Straßenrand, und sie stiegen aus. Ein eisiger Wind wehte ihnen entgegen, und der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie auf das Haus zugingen. Jay spürte, wie seine Hände zitterten, obwohl er sie tief in die Taschen seines Mantels vergraben hatte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, doch das Bild von Sam, allein und in Gefahr, ließ ihn nicht los. Sie erreichten die Haustür, und Richard drückte, ohne zu zögern, alle Klingeln. Ein lautes Summen erklang, und die Tür sprang auf.
»Dritter Stock«, sagte er leise, während sie das enge, dunkle Treppenhaus betraten. Der Geruch von altem Holz und abgestandener Luft lag schwer in der Luft. Jay spürte, wie sein Herz schneller schlug, je näher sie der Wohnung kamen. Endlich erreichten sie den vierten Stock, und Richard klopfte energisch an die Tür. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein Gesicht erschien im Schatten. Diana Asher. Ihr Haar war wirr, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und sie wirkte, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Ohne ein Wort zog sie die Tür weiter auf und ließ sie eintreten.
»Kommt rein«, murmelte sie, ihre Stimme war heiser und brüchig, und sie trat zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Jay war der Erste, der den Raum betrat, gefolgt von Richard und Mason. Das Wohnzimmer war düster, die Gardinen halb zugezogen, nur das schwache Licht einer Tischlampe erhellte den Raum. Der muffige Geruch von abgestandener Luft und Feuchtigkeit hing in der Luft.
»Wo ist er?« Jays Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch die Verzweiflung darin war unüberhörbar. Er sah sich hektisch um, als würde Sam jeden Moment aus einer Ecke auftauchen. Diana hob eine zitternde Hand.
»Ich... ich bin allein«, flüsterte sie und wich Jays Blick aus. Er spürte, wie ihm die Luft wegblieb. Allein?
»Setzt euch«, sagte sie dann und ging voran ins Wohnzimmer. Sie wirkte abwesend, wie jemand, der in einer endlosen Spirale aus Angst und Verzweiflung gefangen war. Richard und Mason setzten sich auf das alte, abgewetzte Sofa, doch Jay blieb stehen, unfähig, still zu sitzen.
»Wo sind Cameron, Caden und vor allem Sam?« Richards Stimme war ruhig, doch in ihr lag eine gefährliche Schärfe. Diana hob den Kopf, und plötzlich schien all die Anspannung, die sie in den letzten Tagen zurückgehalten hatte, über ihr zusammenzubrechen. Ihre Schultern bebten, und Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
»I-ich wusste von nichts«, stammelte sie und schlug die Hände vors Gesicht. »Cameron ... er hat mir nichts gesagt. Vor fünf Tagen kam er nach Hause und meinte, dass bald alles wieder normal sein würde. E-er sagte, er hätte Sam.« Jay erstarrte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Knöchel traten weiß hervor.
Sam ... Cameron hatte ihn also wirklich.
»Caden...«, Dianas Stimme war kaum mehr als ein Hauch, doch Jay hörte jedes Wort. »Caden war außer sich. Er wollte, dass Cameron Sam sofort freilässt. Er hat ihn angefleht, loszulassen. Ihn angefleht, dass wir endlich unsere Leben leben, aber Cameron ... er ist ausgerastet. Hat Caden bedroht...«
»Was?« Jays Stimme bebte vor Wut. Diana schluchzte leise und vergrub das Gesicht in ihren Händen.
»Er hat gesagt, dass Caden mitkommen muss. Damit er lernt, was Rache im Rudel bedeutet.« Richard stand plötzlich auf, sein Gesicht war eine Maske aus Zorn und Entschlossenheit.
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Verschleppt
WerewolfIm zweiten Band von "Verstoßen" wird es noch spannender und dramatischer: Sam wird von Cameron Asher entführt und in einer abgelegenen Hütte festgehalten. Gefangen, abgeschnitten von seinem Rudel und durch mysteriöse Armbänder daran gehindert, seine...