Kapitel 1 Blut der Auserwählten

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Der Krieg wütete schon seit Jahren, ein unerbittlicher Sturm, der alles in seinem Weg verschlang. Dörfer brannten, Städte zerfielen, und Felder, die einst vor Leben blühten, lagen nun unfruchtbar unter einem endlosen Leichentuch aus Rauch und Asche. Das Land war vernarbt, gezeichnet von den Erinnerungen an längst vergangene Schlachten, und die Luft war dick mit dem Gestank von Blut und Tod. Doch inmitten dieses Chaos gab es einen Lichtschimmer, eine einzige, zerbrechliche Hoffnung.

Man nannte sie die Auserwählte, ein Titel, der ihr durch eine Prophezeiung aufgezwungen worden war, durch das Geflüster eines Schicksals, um das sie nie gebeten hatte. Seit sie ein Kind war, hatte man ihr gesagt, sie würde diejenige sein, die den Krieg beenden und einer Welt, die den Geschmack des Krieges vergessen hatte, den Frieden bringen würde. Doch als sie auf dem Schlachtfeld stand und ihre Rüstung mit dem Blut von Feinden und Freunden befleckt war, konnte sie das Ende nicht sehen.

Alles, was sie sah, war mehr Tod, mehr Leid. Und doch konnte sie sich nicht abwenden. Sie konnte nicht aufgeben.

Neben ihr, wie ein Schatten, stand ihr treuer Ritter. Seine Rüstung war verbeult, sein Schwert stumpf, aber er war immer noch da, unnachgiebig, ein stiller Wächter, der sich nicht bewegen ließ. Sie kannten sich, seit sie Kinder waren, als die Welt noch heil und der Himmel klar war.

Damals waren sie lachend über die Felder gerannt und hatten Träumen nachgejagt, die so nah und so erreichbar schienen. Er war immer an ihrer Seite gewesen, schon damals, eine stille, unerschütterliche Präsenz.

Jetzt hatte sich die Welt bis zur Unkenntlichkeit verdreht, und sie waren keine Kinder mehr. Die Felder, auf denen sie einst gespielt hatten, waren vom Krieg verschluckt worden, ihr Lachen wurde vom Klirren des Stahls und den Schreien der Sterbenden übertönt. Aber er war noch da, und das war alles, was zählte.

Er hatte einen Eid geschworen, sie zu beschützen, nicht aus Pflichtgefühl, sondern wegen des Bandes, das sie teilten, ein Band, das in der Unschuld der Jugend geschmiedet und durch die Feuer des Krieges gemildert worden war.

Die Nacht war dunkel, dunkler als er sie je gesehen hatte, als wären die Sterne selbst ausgelöscht worden. Das feindliche Lager zeichnete sich in der Ferne ab, die Fackeln flackerten wie Gespenster in der Finsternis.

Sie stand dort, am Rande ihres provisorischen Lagers, den Blick auf den Horizont gerichtet, auf die Schatten, die sich endlos zu erstrecken schienen und alles zu verschlingen drohten.

Der Ritter konnte die Erschöpfung in ihren Augen sehen, die Last, die sie trug, eine Last, die ihren Geist erdrückte, auch wenn sie es nicht zeigte.

Er näherte sich ihr, seine Schritte waren sanft und vorsichtig, als hätte er Angst, sie würde zerbrechen, wenn er ihr zu nahe käme. "Du solltest dich ausruhen", sagte er mit leiser Stimme, kaum mehr als ein Flüstern.

Sie drehte sich nicht um, um ihn anzusehen. "Ich kann nicht", antwortete sie mit hohler, distanzierter Stimme. "Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie. All die Menschen, die wir verloren haben. All die Leben, die ich nicht retten konnte."

Der Ritter sagte einen Moment lang nichts, suchte nach den richtigen Worten, aber es gab keine. Was sollte er sagen? Dass alles gut werden würde? Dass sie einen Weg finden würden, zu gewinnen, zu überleben? Er konnte sie nicht anlügen, nicht wenn die Wahrheit so deutlich auf dem Schlachtfeld geschrieben stand, in den unzähligen Gräbern, die sie umgaben.

"Sie waren auch deine Freunde", sagte sie und drehte sich schließlich zu ihm um, und er sah den Schmerz in ihren Augen, einen Schmerz, der seinen eigenen widerspiegelte. "Du musst nicht so tun, als würde dich das nicht auch zerreißen."

"Ich tue nicht so", sagte er, obwohl er sich nicht sicher war, ob das stimmte. "Ich... versuche nur, stark zu sein. Für dich."

Sie sah ihn an und für einen Moment verblasste der Krieg. Sie waren nur zwei Menschen, die zusammen in der Dunkelheit standen und versuchten, etwas zu finden, woran sie sich festhalten konnten. Sie streckte ihre Hand aus und berührte seine, so leicht, so sanft, als hätte sie Angst, er würde verschwinden.

Das gebrochene Gelübde: Das Blut der AuserwähltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt