02 | ɢᴇᴅᴜʟᴅ

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--- 𝟏. 𝐊𝐀𝐏𝐈𝐓𝐄𝐋 ---

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"Gott sei Dank bist du da, ich hatte schon Angst, diesen Fraß wieder essen zu müssen!", stöhnte ich leise und schob das Tablett mit dem trockenen Brot weit weg von mir. Es schmeckte scheußlich. Viel zu flüssige Marmelade in einer kleinen Plastikschale, zu dünner Tee und abgepackte Salamischeiben. War ich nicht hier, um gesund zu werden?

"Stets zu Diensten, dein Retter in der Not.", erwiderte meine Cousine grinsend und schoss mit dem Fuß einen kleinen Türstopper in die Ecke. "Was du nicht sagst."

Mit hochgezogener Augenbraue beobachtete ich, wie Tara den Rollstuhl aus der Ecke zerrte, dabei gegen mindestens vier Ecken stieß und schlussendlich vor mir stehen blieb. "Ist ja nicht so, dass du das schon seit einem Monat übst.", sagte ich kopfschüttelnd und mühte mich ab, mich aufrecht hinzusetzen. Die Kopfschmerzen schwellten für einen kurzen Moment an, als ich aufrecht saß und die Beine über die Bettkante schwang. Als Tara mich hochzog, wurde alles schwarz, doch als ich endlich saß, war alles wieder klar.

Jedes Mal dasselbe.

"Wird es überhaupt jemals wieder gehen?", fragte ich missmutig, während meine Cousine sich hinter mich stellte und begann, mich durch die Krankenhausflure zu bugsieren. Mittlerweile war ich seit rund zwei Monaten hier und hatte nichts weiter gesehen als verletzte Menschen und viel zu freundliche Mitarbeiter. Es wirkte, als wollten sie einem einreden, dass alles okay war, während die Realität total anders aussah. Immer anders aussehen würde? Keine Ahnung.

"Mari, du brauchst Geduld. Die Ärzte haben gesagt-"

"Die Ärzte behaupten vieles, was nicht stimmt! Sie haben auch gesagt, ich werde bald wieder laufen können. Kann ich es? Nein!", erwiderte ich scharf und kam mir im nächsten Moment absolut bescheuert vor. Tara konnte nichts dafür. Jeder, aber nicht sie.

"Tut mir leid.", flüsterte ich leise und fing das blinkende Licht eines Knopfes ein, das zeigte, dass der Fahrstuhl bald kommen würde. "Es ist nur so unerträglich, zu wissen, dass ich das alles mal konnte. Und jetzt ... nicht mehr kann. Und dass ich nicht einmal weiß, ob ich es wieder können werde.", schob ich hinterher.

Ich knetete unbewusst meine Hände, während wir in den Fahrstuhl stiegen. Es gab unglaublich viele Menschen, die unter Klaustrophobie litten - manche konnten sich nicht einmal erklären, warum sie diese Ängste hatten. Ich wusste es auch nicht wirklich, aber seit dem "Unfall", wie Tara das Ganze immer nannte, war das alles noch stärker.

Als ich die warmen Hände meiner Cousine auf meinen Schultern spürte, wurde mir wieder klar, dass alles in Ordnung war. Es war nicht so, dass ich verrückt oder so war ... Mein Körper war nur vollkommen am Arsch. Oder eher meine Mentalität, vielleicht auch beides. Das konnten nicht mal die Ärzte sagen.

Ich sah gesund aus, zumindest von außen. Meine Haare waren nicht so fettig und strähnig wie die der anderen Patienten, meine Rippen stachen nicht hervor und ich hatte keine eingefallene Haut. Und dennoch ...

Die Kraft fehlte. Sowohl dazu, mich körperlich zu bewegen, als auch dazu, in irgendeiner Weise mit meiner Vergangenheit klarzukommen. Weil ich mich nicht erinnerte.

Die Ärzte weigerten sich vorerst, mir zu erzählen, was vorgefallen war. Einzig Tara versuchte, mir irgendwie zu helfen. Indem sie mir Geschichten von früher erzählte, wir uns Fotos ansahen, oder - zugegeben, das war das einzige, was wir jeden Tag taten. Aber abgesehen von meiner Cousine kam mich niemand besuchen, was mich darauf schließen ließ, dass mein Leben wohl ziemlich scheußlich gewesen sein musste. Wer wusste das schon?

"Okay, Mari, ich hol uns Kaffee und diese zu teuren Schoko-Croissants. Bin gleich wieder da." Mit diesen Worten verschwand die braunhaarige Frau und ließ mich alleine an einem der Tische im Café stehen. Ich sah ihr ohne zu protestieren nach. Was sollte ich auch schon ändern?

Es war nicht der Fall, dass ich mich an gar nichts mehr erinnern konnte. Ich wusste die grundlegenden Dinge im Leben. Wie man schrieb, sprach, was die Wörter bedeuteten, die ich sagte und dachte. Dieser Teil meines Gehirns ist vollkommen in Ordnung. Aber anscheinend wurde etwas von meinem Großhirn beschädigt und deshalb ... war alles weg, was vor dem Unfall geschehen war.

"Verflucht." Seufzend legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Die ältere Frau, die vor dem Kaffeeautomaten stand und mich anstarrte, war echt nicht mehr auszuhalten. Hatte ich etwas im Gesicht? Leute sahen mich an, als wäre ich eine Attraktion - weil ich nicht krank, sondern quicklebendig aussah. Aber wussten sie, wer ich war? Was mein Problem war?

Woher nahmen sich manche Menschen das Recht, über andere zu urteilen, die sie überhaupt nicht kannten?

Draußen heulte eine Sirene auf und ließ somit alle Gäste des Krankenhauses wissen, dass womöglich noch ein Glückspilz seinen Weg ins Krankenhaus gefunden hatte. Oder eine sie. Die Arme. Der Arme. Gott, jetzt wurde ich wirklich verrückt. Augenblicklich öffnete ich wieder meine Augen und sah mich einem dampfenden Becher mit Kaffee entgegen.

"Mein Schatz, komm' zu Mama.", murmelte ich grinsend und warf Tara ein kurzes Lächeln zu, ehe ich den Kaffee an mich zog und den Zucker reinkippte. Laut meiner Cousine hatte ich früher nie Kaffee gemocht. Aber irgendwie schmeckte das. Allerdings hatte meine Cousine auch behauptet, ich wäre als Kind liebend gerne nackt durch den Garten gerannt, und ich weiß nicht, ob ich ihr in diesem Punkt glauben sollte.

Aber war sie nicht die einzige Person, die mir helfen konnte, mich wieder an mich selbst zu erinnern? Irgendwie wieder normal zu leben?

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𝘱𝘶𝘳𝘦 𝘢𝘥𝘳𝘦𝘯𝘢𝘭𝘪𝘯𝘦 / 𝘫. 𝘮𝘶𝘴𝘪𝘢𝘭𝘢Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt