Ein Windhauch strich durch die Baumkronen und ließ die Blätter leise rascheln. Für einen Moment klang es so, als wolle der Wald Ismira etwas zuflüstern, während sich die Zweige nach ihr auszustrecken schienen. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie sich unter einen umgestürzten Baumstamm duckte, um ihren Weg durch das dichte Grün des Waldes fortsetzen zu können. Farn kitzelte ihre nackten Beine und der Erdboden unter ihren Füßen fühlte sich weich und nachgiebig an. Und klebrig…
Ismira blieb so ruckartig stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Barriere gelaufen. Das Rauschen, das sie nun in ihren Ohren hörte, kam sicher nicht vom Wind… Langsam, widerwillig senkte sie ihren Blick und suchte den Boden ab. Ihr Herz schien außerhalb ihres Körpers zu schlagen und mit aller Macht in ihren Brustkorb zurückzukehren, als sie das dunkle Blut entdeckte, das im Erdboden versickerte und auf die Blätter der umstehenden Sträucher bespritzt war.
Mit einem zischenden Geräusch stieß Ismira die Luft aus und wurde sich erst dabei bewusst, dass sie den Atem angehalten hatte. Das Rauschen in ihren Ohren senkte sich und bald konnte sie nur noch das Rauschen der Blätter über ihr vernehmen.
Es ist nur Blut, beruhigte sie sich und schloss die linke Hand fester um den Griff ihres Weidekorbs. Für einen Herzschlag verharrt sie noch, überlegte, dann stellte sie den mit Pilzen gefüllten Korb vorsichtig auf dem Boden ab und folgte der Blutspur, die sich durch das Unterholz wand. Das Tier, das hier verletzt wurde, konnte nicht weit gekommen sein. Nicht bei den großen Blutspritzern, die sie auf den Blättern sehen konnte.
Schon nach wenigen Metern sah sich Ismira in ihrer Vermutung bestätigt, denn noch bevor sie einige Farnbüschel beiseite schon, konnte sie die Anwesenheit des Todes wahrnehmen und als ihre Augen auf die offene Kehle des Hirsches fielen, blieb kein Zweifel mehr übrig. Vorsichtig ließ sie sich in die Hocke sinken und beugte sich über das tote Tier, darauf bedacht, den Kadaver nicht zu berühren. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Der Duft des Waldes war überlagert vom dickflüssigen, metallischen Geruch des Todes. Er war so dicht, hatte sich so weit ausgebreitet, dass sie kaum etwas anderes wahrnehmen konnte. Wie eine dichte Decke breitete er sich über Mund und Nase aus und drohte, sie zu ersticken.
Doch da war noch etwas. Ismira war sich sicher. Sie konnte es wahrnehmen, doch es verbarg sich vor ihr, wollte sich nicht fassen lassen. Vorsichtig beugte sie sich tiefer hinab, näher zum verendeten Hirsch und atmete ein weiteres Mal tief ein, sog den Geruch von Blut und Tod in sich auf, um zu ergründen, was sich vor ihr verbarg. Eine süße Note, wie Honig und Blumen an einem heißen Sommertag in einem kleinen, fensterlosen Raum…
Ismira riss die Augen auf. Nun war der Geruch so deutlich, dass sie ihn nicht mehr ignorieren konnte. Nun überlagerte er alles, selbst den des klebrigen Blutes. Mit einem erstickten Schrei wollte sie aufspringen, doch ein scharfer, heißer Schmerz fuhr ihr in den Rücken.
„Die Distel blüht! Die Distel blüht!“
Ein schweres Gewicht drückte auf Ismiras Bauch, als sie aus ihrem Schlaf hochfuhr und orientierungslos versuchte, das schwere Etwas von sich herunterzudrücken und nach Luft zu schnappen.
„Die Distel blüht!“
Wieder ein Schrei, diesmal direkt in ihrem Ohr. Endlich gelang es Ismira, die Farben und Bewegungen zu Bildern zu formen. Sie saß in ihrem Bett, die leichten Vorhänge an den Fenstern waren zugezogen und ließen nur gedämpftes Licht in den Raum. Auf ihr und um sie herum tollten zwei Kinder, fassten sich an den Händen und riefen erneut: „Die Distel blüht!“
Als hätte sie dies nicht die ersten Male schon vernommen. Doch nun, da auch ihr Verstand langsam erwachte, dämmerte ihr die Bedeutung dieser Worte.
„Die Distel? Seid ihr euch sicher?“
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Nebelmeer
FantasyJahrhunderte ist es her, dass man die geheimnisvollen Fey zu Gesicht bekam. Nun kehren sie zurück in die Welt der Sterblichen, denn sie brauchen die Hilfe eines untalentierten Schmiedelehrlings.