A c h t u n d d r e i ß i g

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„Was darf ich Ihnen zum Trinken anbieten, Frau Ritter?" Reinhold Kessler, CEO von Kessler Holding, lässt sich betont langsam in seinen Sessel sinken, während er mich taxiert. Sein Blick verweilt eine Sekunde zu lange auf meiner Brust, bevor er wieder zu meinem Gesicht hochwandert. Seine Lippen verziehen sich zu einem selbstgefälligen Lächeln.

Ich räuspere mich. „Nur ein Wasser, bitte."

Er hebt eine Augenbraue. „Nur Wasser? Wie wäre es mit einem Glas Champagner?"

Ich richte mich auf, merke, wie sich meine Schultern verspannen. „Ich bin beruflich hier, Herr Kessler."

„Natürlich, natürlich", sagt er und sein Lächeln wird breiter.

Als ich Nadine die Interviewstrecke mit den CEOs der Münchener Fin-Tech-Unternehmen vorgeschlagen habe, habe ich mir ehrlich gesagt etwas anderes vorgestellt als ihn: ein Mitte 50-jähriger weißer Mann, sonnengebräunt, zurückgegeltes Haar. Kessler ist dreifach geschieden, hat zwei Kinder mit seiner ersten Ehefrau und ist Gerüchten zufolge mit einem jungen Model liiert. Als Nadine mir die Kontaktdaten von Kesslers Sekretärin weiterleitete, habe ich zähneknirschend die Anfrage rausgeschickt – und nur wenige Stunden später die Zusage erhalten (erbraucht die gute Publicity wohl ebenso dringend wie ich meinen Artikel). Die einzige Bedingung: Ich sollte Kessler in seiner Villa am Starnberger See interviewen. Also habe ich mir Nicoles kleinen Fiat geliehen und bin heute Nachmittag hinaus an den Starnberger See gefahren.

Ein Glas Wasser taucht wie von Zauberhand neben mir auf. Ich umschließe es fest, beobachte, wie die Kohlensäurebläschen an die Oberfläche steigen. Seit dem Vorfall vor ein paar Wochen... Ich habe mir geschworen, nie wieder etwas zu trinken, von dem ich nicht weiß, wie es zubereitet wurde. Ich schlucke schwer, meine Hände sind feucht vor Schweiß.

„Stimmt etwas nicht, Frau Ritter?" Wieder dieses selbstgefällige Grinsen.

Du bist in Sicherheit. Du bist in Sicherheit. Du bist in Sicherheit.

„Alles in Ordnung", presse ich hervor und zwinge mich, von dem Wasserglas zu trinken.

Kessler beobachtet jede meiner Bewegungen, den Mund leicht geöffnet.

„Sie müssen nicht so förmlich sein, Frau Ritter." Kessler schlägt betont lässig die Beine übereinander, seine Augen wandern erneut schamlos an mir herunter. „Sie sind schließlich hier, um den Menschen hinter dem CEO kennenzulernen, nicht wahr?"

Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben, setze ein höfliches Lächeln auf. „Ganz genau. Also – wenn wir beginnen könnten?" Ich drücke die Aufnahmetaste meines Diktiergerätes und halte seinem Blick stand.

Er lehnt sich zurück, sein Blick ist herausfordernd. „Gut. Was möchten Sie wissen? Was Reinhold Kessler ausmacht?" Er spricht über sich in der dritten Person, als wäre er ein Kunstwerk. „Was wollen Ihre Leser hören? Meine Werte, meine Vision?" Er macht eine Geste, als wolle er ein imaginäres Publikum beeindrucken. „Ich bin ein offenes Buch."

Ich nicke langsam. „Nachhaltigkeit scheint Ihnen ein Anliegen zu sein, da positioniert sich Ihr Unternehmen sehr stark. Wie leben Sie diese Werte im Alltag?"

Er lächelt dünn. „Ja, Nachhaltigkeit. Ein großes Thema bei uns. Wir arbeiten ständig daran." 

Keine Antwort auf meine Frage. Aber ich habe meine Hausaufgaben gemacht.

„Ich habe gelesen, dass Sie Oldtimer sammeln, gerne Urlaub auf Ihrer Yacht in Monaco machen. Wie passt das zusammen?"

Seine Augen verengen sich zu Schlitzen. „Sehen Sie, Frau Ritter, ich sehe das so: ein Mann darf sich seine Leidenschaften leisten. Ich schätze das... Besondere." Sein Blick wird intensiver, und ich habe das Gefühl, dass er längst nicht mehr über Autos oder Yachten spricht.

Ich halte seinem Blick stand, doch etwas in mir zieht sich zusammen, will die Flucht ergreifen. Die Luft im Raum fühlt sich plötzlich dick und zäh an. Ich räuspere mich, zwinge mich tief durchzuatmen und wechsele das Thema. Der Rest des Interviews verläuft wie erwartet – er gibt professionelle, makellose Antworten und weicht geschickt aus, sobald eine Frage zu tief geht oder zu kritisch wird. Kein Wunder, dass er dem Interview zugestimmt hat, er ist ein echter Medien-Profi. Und für mich gibt es keine Story, nur das Bild des „perfekten" Reinhold Kessler. Nicht gerade das, was ich mir vom heutigen Tag erhofft habe.

Nach dem Interview lächelt Kessler selbstzufrieden. Er weiß genauso gut wie ich, dass er tadellose Arbeit geleistet hat.

Ich erhebe mich von meinem Sessel. „Könnte ich noch kurz Ihre Toilette benutzen?" Bei dem Feierabendverkehr wird die Rückfahrt eine gefühlte Ewigkeit dauern.

„Aber natürlich." Er steht auf, ist in zwei Schritten bei mir, legt mir die Hand auf den Rücken. Mein Puls beschleunigt sich. Die Wände scheinen enger zu rücken, die vier Meter hohe Decke scheint auf mich herabzusinken. Der Atem weicht mir aus der Lunge, als würde jemand langsam zudrücken. „Dort entlang, bitte", murmelt er, die Hand noch auf meinem Rücken. 

Ich gehe schnell zu der Tür, die er mir gezeigt hat, werfe ihm einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. Er steht da, den Mund leicht geöffnet, und taxiert mich unverhohlen.

Auf der Toilette spüre ich das Zittern meiner Hände, das immer schlimmer wird. Ich umklammere den kalten Marmorrand des Waschbeckens so fest, dass meine Knöchel weiß hervortreten. Im Spiegel blicke ich in weit aufgerissene Augen. Der schwarze Blazer, die weiße Bluse – kein Ausschnitt. Es gibt nichts, was er anstarren könnte... und trotzdem hat er mich mit seinen Blicken regelrecht ausgezogen, bis ich mich nackt gefühlt habe, verletzlich, bloßgestellt. Ich schließe die Augen, atme tief durch, versuche, die Kontrolle zurückzugewinnen, die er mir genommen hat. Das hier ist keine Szene aus Fifty Shades of Grey, und es ist verdammt nochmal nicht okay, dass Männer wie er sich mit ihren Blicken alles nehmen und glauben, sie hätten das Recht dazu.

Zurück im Eingangsbereich erwartet mich Kessler, die Hände lässig in den Anzugstaschen, sein Blick wachsam. Entschlossen und mit versteinerter Miene gehe ich auf ihn zu, strecke ihm die Hand hin. „Vielen Dank für das Interview, Herr Kessler."

Zu überrascht, um darauf reagieren zu können, ergreift er sie, beugt sich vor und haucht mir einen Kuss auf die rechte Wange, dann die linke. Sein warmer Atem streift meine Haut, hinterlässt ein unangenehmes Prickeln, wo er mich berührt hat. Ich erstarre, kämpfe gegen das Aufbäumen in mir, gegen den Drang, zurückzuweichen. Stattdessen starre ich ihn nur an, lasse den Moment wortlos über mich ergehen, bis er vorbei ist.

Ohne mich noch einmal umzudrehen, fliehe ich aus der Villa. In der Sicherheit des kleinen Fiats sauge ich fast schon verzweifelt den vertrauten Geruch ein. Ich atme ein – und aus. Ein. Aus.

Ich schäme mich. Ich schäme mich, dass ich nichts gesagt, nichts getan habe. Ich habe es einfach geschehen lassen. Habe mich sogar bedankt bei ihm. Ekel steigt in mir auf. Und Abscheu vor mir selbst. Ich beiße die Zähne zusammen, starte den Motor, lasse die Kupplung kommen und trete das Gaspedal durch.

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt