N e u n u n d d r e i ß i g

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Langsam rollt der Fiat auf den Parkplatz des Marienhospitals. Die Straßenlaternen werfen kaltes Licht auf das graue Pflaster. Ich stelle den Motor ab, das Armaturenbrett zeigt 17:42 Uhr.

Es ist Mitte Oktober, und Nicoles Standheizung scheint beschlossen zu haben, dass sie nur auf Sparflamme arbeiten möchte. Mit einem leisen Seufzen greife ich nach meinem Wollmantel auf der Rückbank, ziehe ihn eng um mich. Dann fische ich mein Handy aus der Tasche und tippe eine Nachricht:

17:43 – Bin da. Stehe auf dem Parkplatz

Dafür, dass ich mir heute Nicoles Auto leihen durfte, um für mein Interview nach Starnberg zu fahren, habe ich ihr versprochen, sie von der Arbeit abzuholen.

Gerade als ich durch die Radiokanäle zappe, klopft es an die Scheibe. Ich zucke zusammen, hastig drehe ich mich um.

Da steht er. In einer grauen Daunenjacke und mit einem dicken Wollschal und... er sieht erschöpft aus, seine Haare sind zerzaust, und er hat dunkle Schatten unter den Augen. Doch darin liegt auch ein amüsiertes Funkeln. Seine Mundwinkel heben sich zu einem leisen Lächeln.

Eilig lasse ich das Fenster herunter.

„Hey." Mein Versuch, lässig zu klingen, scheitert kläglich. Ich bin völlig außer Atem.

„Man könnte fast glauben, du arbeitest hier", sagt er mit einem leisen Schmunzeln, doch seine Augen mustern mich aufmerksam. „Ist alles in Ordnung?"

„Bei mir ist alles gut." Ich zucke mit den Schultern, weiche seinem Blick aus. „Ich bin diesmal nur der Chauffeur."

Er hebt fragend die Augenbrauen.

„Ich hole meine Schwester ab. Sie arbeitet tatsächlich hier."

„Deine Schwester?"

„Nicole. Nicole Ritter."

Er blinzelt kurz, dann schüttelt er den Kopf. „Ihr seht euch überhaupt nicht ähnlich."

„Danke", sage ich trocken. Sollte das ein Kompliment sein oder eine Beleidigung?

Seine Mundwinkel zucken. „Naja, angesichts der Tatsache, dass du eine Frau bist, sollte ich wohl nicht überrascht sein..." Irritiert runzele ich die Stirn, während er einen Arm auf das Dach des Fiats legt. Er beugt sich tiefer zu mir, sein Atem malt kleine Wolken in die kühle Abendluft, ein verschmitztes Funkeln in seinen Augen. „...aber du hast mich zugeparkt."

Mir klappt der Mund auf. Ich schnappe empört nach Luft, will ihm gerade sagen, was ich von seiner sexistischen Bemerkung halte – ich bin eine verdammt gute Autofahrerin! – werfe aber sicherheitshalber einen Blick über meine Schulter. Und sehe einen schwarzen Golf. Elias Golf. Den ich tatsächlich zugeparkt habe. Scheiße. 

Hitze steigt mir ins Gesicht. „Äh... sorry." Hastig lege den Rückwärtsgang ein. Elias tritt einen Schritt zurück.

Bevor ich losfahre, greife ich schnell nach meinem Portemonnaie. „Warte. Hier, die fünfzig Euro, die ich dir noch schulde."

Er sieht mich einen langen Moment an, dann winkt er ab. „Lass mal."

„Elias." Mein Tonfall wird bestimmter, aber er hebt nur abwehrend die Hand.

Gerade als ich überlege, wie ich ihn doch noch dazu bringen kann, das Geld anzunehmen, fällt mir ein, dass der Fünfzig-Euro-Schein nicht das Einzige ist, was er mir geliehen hat. „Ich hab auch noch deinen Pulli", rutscht es mir heraus. „Ich kann ihn Nicole mitge–" 

„Behalte ihn", sagt er mit einem sanften Lächeln. „Er steht dir sowieso besser."

Mein Gehirn schaltet auf Standby, und mein Gesicht brennt. Ich blinzele ihn an, unfähig etwas Geistreiches zu erwidern. Also räuspere ich mich und starte den Motor. Doch als ich zurücksetzen will, passiert es. Der Motor würgt ab. So viel zu "Ich bin eine gute Autofahrerin".

„Alles okay?" fragt Elias belustigt.

„Klar." Ich starre entschlossen auf die Gangschaltung, starte erneut und ignoriere die Tatsache, dass mein Gesicht mittlerweile in Flammen steht.

„Lena." Seine Stimme lässt mich innehalten. „Wenn du mal reden willst... egal, worüber... ich bin da, okay?"

Seine Worte treffen mich unerwartet. Ich starre auf meine Hände, die sich um das Lenkrad klammern. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen. Ich bin da. Drei simple Worte, die alles in mir durcheinanderbringen.

Ich wage einen Blick, obwohl ich weiß, dass es gefährlich ist. Seine blaugrauen Augen sind ernst, ehrlich. Ich sehe keine Zweifel darin, keine Berechnung, nur... etwas, das mich schwer schlucken lässt. Für einen Moment glaube ich, er könnte es wirklich so meinen.

Doch dann blitzt ein Bild von Sebastián vor meinem inneren Auge auf. Und Elias, mit seinen unvorhersehbaren Gesten und dieser verdammten Fähigkeit, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen... macht alles nur kompliziert.

Ich presse die Lippen zusammen und nicke langsam. „Danke", murmele ich, und es klingt so klein, so unbedeutend, im Vergleich zu dem, was ich wirklich fühle.

Da fällt mein Blick in den Rückspiegel, wo Nicole auftaucht. Als sie den Fiat erreicht, nickt sie Elias kurz zu und steigt ein. 

„Hey Lena."

„Moment, ich muss kurz umparken." Ich konzentriere mich – bloß nicht nochmal den Motor abwürgen – setze zurück, ignoriere Elias, der meine Fahrkünste mit einem belustigten Lächeln beobachtet, und manövriere den Fiat in eine freie Parklücke. Endlich stelle ich den Motor ab.

„War das nicht Elias Meyer aus der Ortho?" fragt Nicole.

Ich nicke knapp.

„Ich hab' schon viel von ihm gehört– oder besser gesagt, davon wie hot er ist. Die Gerüchte scheinen zu stimmen." Sie grinst und zwinkert mir zu.

„Ich schätze, er sieht... ganz passabel aus." 

„Ganz passabel?" Sie lacht auf. „Woher kennt ihr euch?" Die Frage klingt beiläufig, aber die Neugier in ihren Augen entgeht mir nicht.

„Als ich mir damals den Fuß gebrochen habe... hatten wir miteinander zu tun", gebe ich schulterzuckend zurück.

Vielleicht liegt es an dem, was ich heute erlebt habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich meiner Schwester nicht länger etwas vormachen möchte... Vielleicht muss ich endlich aufhören, so zu tun, als wäre nichts passiert.

Ich hole tief Luft. „Als mir vor ein paar Wochen K.-O.-Tropfen verabreicht wurden... hat er mich gerettet." Meine Stimme zittert, und ich starre aus dem Fenster. „Elias hat verhindert, dass – dass irgendetwas Schlimmeres passieren konnte."

Und als wäre ein Damm gebrochen, erzähle ich ihr alles. Von diesem Abend, der alles verändert hat. Von Elias und allem, was er für mich getan hat. Von meinem Besuch bei der Polizei. Von der Panik, die mich seither verfolgt. Die Albträume. Meine Angst, dass es wieder passieren könnte. Die Erlebnisse heute Nachmittag. Versuche ihr, und vielleicht mir selbst, zu erklären, was das mit mir gemacht hat.

Nicole hört schweigend zu, ihre braunen Augen, die meinen so ähneln, groß und aufmerksam. Als ich schließlich ende, laufen mir stumm die Tränen über die Wangen.

„Oh, Lena." Nicole zieht mich an sich, hält mich fest, und ich mich an ihr. Ich vergrabe mein Gesicht an ihrer Schulter, lasse die Tränen kommen, die ich so lange, viel zu lange, zurückgehalten habe. 

Eine Weile sitzen wir schweigend da, bis sie mich loslässt. Ihre Wangen sind ebenfalls nass.

„Allein die Vorstellung, dass dir fast –" Ihre Stimme bricht, sie schüttelt den Kopf. „Lena, hör zu. Egal, was passiert, du kannst immer zu mir kommen. Immer. Du bist nicht allein." Ihr Blick bohrt sich in meinen. „Bitte denk nie wieder, dass du sowas allein durchstehen musst." 

Und dann kommen mir erneut die Tränen.

Between HeartbeatsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt