Kapitel 1

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CN: Erwähnung von (sexueller) Gewalt und Tod. Sexueller Missbrauch und das Ausnutzen von Machtgefällen werden thematisiert, es gibt jedoch keine explizite Schilderung von sexueller Gewalt. Alle näher beschriebenen sexuellen Handlungen finden immer mit 100% Einverständnis der beteiligten Personen statt.

Kapitel 1
Der Schrei seiner Schwester trieb Eliya übers Feld. Mit hämmernden Herzen hetzte er vorwärts, zerrte am Führstrick der beiden vom Pflügen erschöpften Ochsen. Seine Muskeln krampften, seine Sicht verschwamm, doch er zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Im Westen tauchte die untergehende Sonne die Wolken in tiefes Rot. In wenigen Minuten würde sie nichts als Dunkelheit zurücklassen.

Als Eliya atemlos den Hof erreichte, empfing ihn Stille. Niemand kam aus dem Wohnhaus, um ihn zu begrüßen, seine Schwestern warteten nicht darauf, ihm die Ochsen abzunehmen und im Stall zu versorgen. Fahrig band er die Tiere fest und stolperte ins Haus.

Im Inneren fand er endlich seine Familie. Sein Vater saß auf dem einzigen halbwegs stabilen Stuhl, das verletzte Bein auf zusammengefalteten Laken gebettet. Hinter ihm stand Eliyas Mutter und rührte in einer Suppe, die kaum würziger roch als kochendes Wasser. Dennoch rumorte sein leerer Magen.

Mira, die älteste der sechs Geschwister, machte keine Anstalten, die Arbeit an ihrem Spinnrad fortzusetzen, ebenso wenig wie Agi, die ihre Näharbeit auf dem Schoß hielt, mehr an ihrem Bruder interessiert als daran, Strümpfe zu stopfen.

Eliyas Blick huschte von Mira und Agi zu den drei jüngsten Kindern des Haushalts, Lisbeth, Cora und Freyda, die um den Tisch neben der Feuerstelle versammelt standen und ihn ebenfalls aus großen Augen anstarrten. Lisbeth war verstummt, doch ihr Schrei hallte weiterhin durch seinen Kopf.

„Was ist passiert?", krächzte er, kaum genug Luft im Körper, um die Frage herauszupressen. „Seid ihr in Ordnung?"

„Er war plötzlich einfach da!", rief Lisbeth. „Einfach so. Ich habe Mama geholfen, den Tisch zu decken und dann ..."

„Wer? Wer ist da?" Dann sah Eliya endlich den Umschlag auf der Mitte des Tischs, goldgetüncht und versiegelt mit blutrotem Wachs. Allein das Papier musste wertvoller sein als die Kleidung, die er am Körper trug.

„Als wäre er aus der Luft entstanden", plapperte Lisbeth weiter. Plötzlich verpuffte ihre kindliche Faszination, ersetzt durch einen Ausdruck, der nicht zu ihrem jungen Gesicht passen wollte. „Du gehst weg, oder?"

Eliya wusste nicht, was er seiner kleinen Schwester antworten sollte, also nahm er stattdessen den Brief an sich und drehte ihn ratlos in den Händen. Das Papier unter seinen Fingerspitzen fühlte sich glatt und weich an, beinahe wie Stoff. Oder zumindest, wie sich Eliya Stoff vorstellte, aus dem Kleider gefertigt wurden, die ihren Träger schmücken sollten, anstatt Hitze, Kälte und harter Arbeit standzuhalten.

Auf dem Siegel prangte das Symbol der Heiligen Gesellschaft Standesübergreifender Verbindungen, zwei ineinandergeschlungene Linien, die einen Schlüssel bildeten. Das Versprechen eines besseren Lebens.

Eliya brach das Siegel. Die Länge des Schreibens überraschte ihn, doch dank der klaren, schnörkellosen Handschrift gelang es ihm, die wichtigsten Informationen zu entziffern. Zur Sicherheit reichte er den Brief im Anschluss an seine Schwester Freyda weiter.

„Du sollst in zwei Wochen in Isgold sein", bestätigte sie seine Vermutung, ohne sich erst mühsam Wort für Wort durch die Zeilen quälen zu müssen. „Mittags im Gasthaus ‚Zur roten Blüte'."

„Du musst das nicht tun."

Eliya sah zu seiner Mutter, und es war ihr Anblick, der alle Zweifel in ihm endgültig fortwischte. Er erinnerte sich nicht, sie jemals bei guter Gesundheit erlebt zu haben – jede ihrer Schwangerschaften hatte an ihr gezehrt, ebenso wie die beschwerliche Arbeit, das Wohlergehen ihrer überlebenden Kinder sicherzustellen – doch in den vergangenen Monaten hatte sich ihr Zustand deutlich verschlechtert. Ausgemergelt, mit tiefen Linien um die Mundwinkel, das einst kastanienrote Haar fast vollständig ergraut. Sie schien kaum Kraft zu haben, sich auf den Beinen zu halten, geschweige denn den übergroßen Holzlöffel durch die Wassersuppe zu ziehen.

Kein Wunder, bei den Jahren, die hinter ihnen lagen. Die Dürren und Überschwemmungen, der Hagel, der drei Frühjahre zuvor einen Teil ihrer Ernte komplett vernichtet hatte. Und selbst jetzt, nachdem die Wettergötter ihnen endlich wohlgesonnen schienen und sie sich jeden Tag den Rücken krumm gearbeitet hatten, blieb der Ertrag deutlich hinter ihren Erwartungen und Hoffnungen zurück. Der Sturz seines Vaters vor einer Woche, als er einen Teil des undichten Dachs hatte reparieren wollen, war nur ein weiteres Unglück von vielen.

Noch so ein Jahr würde Eliyas Familie nicht überstehen. Sie wussten ja jetzt schon kaum, wie sie genug Essen auf den Tisch bringen sollten. Wiederholt hatte er seine Mutter dabei beobachtet, ihre eigene Portion zu verkleinern, um ihm einen zusätzlichen Löffel zu ermöglichen.

Er hasste, dass sie glaubte, das tun zu müssen, und er hasste es noch mehr, dass er vorgab nichts zu bemerken, um den ständig nagenden Hunger wenigstens für kurze Zeit zu stillen. Andernfalls fehlte ihm die Kraft für die Arbeit auf dem Feld, besonders jetzt, da sein Vater ihm nicht helfen konnte.

Bestenfalls Veta wusste, wie sie die im Herbst anfallenden Steuern begleichen sollten, und Eliya hegte die Befürchtung, dass die Göttin der Fruchtbarkeit und Feldarbeit sich eher wenig für solch irdischen Schnickschnack interessierte.

Der Brief in seinen Händen konnte ihre Rettung sein. Er konnte ihre Vorratskammer füllen, einen Heiler für seinen Vater bezahlen, und eine Hilfe fürs Bestellen der Felder. Er konnte vorteilhafte Eheschließungen für Mira und Agi ermöglichen und höhere Schulbildung für Freyda. Er war ihre Chance auf ein besseres Leben. Dafür musste er sich lediglich für ein Jahr einem Hohen Herren unterwerfen. „Ich habe keine Wahl."

Eliyas Mutter antwortete nicht, vermutlich, weil sie im Inneren ganz genau wusste, dass ihre Liebsten eine schlechte Ernte vom Hungertod entfernt standen und es den übrigen Familien im Umkreis kaum besser ging. Das hielt ihre Augen nicht davon ab, sich mit Tränen zu füllen. Sie drehte sich weg, die Schultern hart, der Rücken kerzengerade.

Wenige Stunden später lag Eliya auf seiner Schlafstelle, erschöpft von der Arbeit auf dem Feld und dem anschließenden Versorgen der Tiere. Hungrig, obwohl das Abendessen nicht lange zurücklag. Um sich herum hörte er den gleichmäßigen Atem seiner fünf Schwestern und das gelegentliche Rascheln des Strohs, wenn sich eine von ihnen zur Seite wälzte. So sehr er versuchte einzuschlafen, seine Gedanken kreisten um den Tag, der sein Schicksal verändert hatte.

Kommentar
Hallo und willkommen zu meinem neuen Schreibprojekt! Ich gestehe, das hier ist eher ein kleiner Teaser, zur Feier des Abschlusses meiner Trilogie rund um Raupe im Neonlicht. Mit dem Upload der restlichen Kapitel werde ich erst beginnen, wenn ich die Story vollständig vorgeschrieben habe. Das wird voraussichtlich noch ein wenig Zeit in Anspruch nehmen.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 2 days ago ⏰

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