Portrait einer Familie von Nebenan

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Eine Familie saß bei Tisch. Spannung lag in der Luft, Schweigen erfüllte den Raum.

Schmutzig wirkendes Sonnenlicht drang durch die vorhangverhangenen Fenster, es gab zwei Stück. Sie hatten vor einigen Jahren die Wand zwischen Wohn- und Esszimmer eingerissen, damit der Raum freundlicher wirkte. Es gab irgendeine Cremesuppe, mit Wurststücken darin. Eine Mutter, ein Vater, ein Kind. Die Verheirateten Anfang 50, das Mädchen gerade erst 16 geworden. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Beklemmung. Ablenkung. Bitterkeit.

Noch immer sagte niemand ein Wort. Vondraußen drangen alltägliche Geräusche herein und ließen die tote Szene weniger unwirklich erscheinen. Das Mädchen blickte aus dem Fenster, die Sicht durch die Spitzenvorhänge behindert. Spitzenvorhänge. Es hasste sie.

Von ihrer Position aus konnte sie die Straße und das Haus gegenüber sehen. Der Tisch stand unter Fenster, jede Person saß an einem anderen Tischende. Die Eltern an den Kurzen, die Tochter an der langen Seite. Besteck traf auf Tellerböden. Brot wurde in die Suppe getunkt.

Auf der Straße ging eine Frau mit einem Schäferhund spazieren. Er ließ hechelnd die Zunge zu Seiteraushängen. Die Frau hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Sie war nicht alt.

Die Tür des Hauses gegenüber öffnete sich. Ein beinahe noch junger Mann trat heraus – seltsam, dachte das Mädchen. Dort wohnten zwei Schwestern, alte Frauen über 80. Sie hatten weder Ehemänner noch Kinder, sie hatten nur sich gegenseitig. Manchmal sah das Mädchen sie bei der Gartenarbeit im Vorgarten und grüßte sie. Die jüngere der beiden fuhr manchmal mit dem Fahrrad in die Stadt. Ihre Pflegehilfe war eine Frau. Den Mann hatte das Mädchen noch nie gesehen. Er trug einen Bart und eine volle Tasche.

Der Vater erhob das Wort. „Sieht aus, als würde die Alte endlich ins Altersheim gebracht." Das Mädchen löste seinen Blick von dem Mann und sah ihren Vater an. „Sie muss da hin? Das wusste ich gar nicht", merkte sie an. Der Vater schaute sie vorwurfsvoll an. „Elisa, sie ist schon alt. Sie kann das nicht mehr." Die Mutter schnalzte missbilligend mit der Zunge. Das Mädchen beachtete es nicht. „Aber dann ist ihre Schwester doch ganz allein. Oder kommt sie mit?" 

Ein erneutes Schnalzen der Mutter. „Hast du es vergessen?", sie klang genervt, sie klang vorwurfsvoll. Das Mädchen war verwirrt, es legte seine Stirn in Falten. Es begann, mit dem Ende der Tischdecke zu spielen, das ihre Oberschenkel streifte. „Ich weiß nicht-" Sie unterbrach sich. Was war es? Ihr wurde nichts erzählt. Zog die Schwester etwa um? Vielleicht zu einem Sohn? Hatte sie einen? „Elisa, die ist doch gestorben. Vor ein paar Monaten." Die Augen des Mädchen weiteten sich. Die alte Frau war tot? Gott, sie fühlte sich schäbig. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie nicht da war. „Das habt ihr mir nicht gesagt", antwortete sie stockend. Sie holte tief Luft. Der Vater nahm sich eine weitere Kelle Suppe in den leer gelöffeltenTeller. „Nicht gesagt. Du wolltest nicht zuhören", giftete die Mutter. Das Mädchen dachte nach, konnte sich jedoch nicht entsinnen, dass die Mutter etwas erwähnt hatte. Sie schüttelte innerlich den Kopf. Das tat die Mutter oft. Was sie nicht sofort erklären konnte, war die Schuld des Mädchens. „Haben wir wenigstens eine Karte geschrieben?", fragte sie schuldbewusst. Diese Frau war gestorben, nicht einmal 15 Meter entfernt, und das Mädchen wusste nichts davon, absolut nichts. Kurz dachte es, dass es nicht seine Schuld war. Es redete praktisch nie mit den Frauen. Ihre Eltern waren Schuld. Sie hätten es erzählen sollen. Das Mädchen fühlte sich schlecht, weil es wusste, dass es nur versuchte, die Schuld abzuschieben. Um das eigene Gewissen zu erleichtern. Es wusste, dass es menschlich war, und es wusste, dass es widerlich war. Das Mädchen hatte einen Kloß im Hals.

„Natürlich", antwortete der Vater, als die Mutter still blieb. „Wir haben der Alten auch ein wenig Geld reingesteckt." War er etwa stolz darauf? Ein bisschen Geld als Trost für den Tod deiner Schwester, damit ich mich wie einanständiger Mensch fühlen kann. Das Mädchen wusste, dass es unfair war, so zu denken. Es nickte, um zu zeigen, dass es gehört hatte.

„Sie schafft es nicht mehr allein, das große Haus... Sie ist ganz allein", sagte die Mutter, „Deswegen kommt sie in Pflege."

Das Mädchen kippte den Teller, sodass es den letzten Löffel Suppe mit dem Löffel erreichen konnte. Es nahm sein schmutziges Geschirr, stellte es in der Küche in die Spülmaschine und brachte den Eltern den Wasserkocher, Teebeutel, Tassen, Süßigkeiten. Es fragte, ob noch jemand Suppe wollte –Verneinung. Es brachte den Topf in die Küche, verließ das Esszimmerund die Küche und ließ ihre Eltern allein mit dem Schweigen, dass Menschen umgibt, die sich nichts außer die verzweifelten Vorwürfe aufgestauter Wut und Einsamkeit entgegenzubringen hatten.

Es selbst dachte noch lange über den Vorfall nach, doch irgendwann konnte es keine Reue mehr empfinden. Es fragte sich, ob Menschen sich mit Apathie selbst schützten und wie viel von dem Bild unserer Selbst stimmte, das wir anderen Menschen tagtäglich vorgaukeln. Und es weinte, denn ihm wurde klar, dass es niemals alles teilte, was es war und es eigentlich niemanden kannte. Schon gar nicht die alten Schwestern von gegenüber. Für sie wie stille Schatten, bis sie verschwanden und gleichzeitig nichts und so viel hinterließen.

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