Hinter dem Grau

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Der schlechte Geruch von vergammeltem Fleisch steigt mir in die Nase, wie jeden Tag ist dies das Zeichen, dass es gleich Essen geben wird. Obwohl man es nicht wirklich Essen nennen kann. Es ist eine glibbrige Masse aus undefinierbarem Matsch, kombiniert mit schimmelndem Fleisch, die Fünf-Sterne-Küche unseres Trakts eben.

Eleonora, die sich seit neustem auf engstem Raum mit mir arrangieren muss - obwohl man hier mit fast jedem auf engstem Raum ist, verzieht die Nase, was mich grinsen lässt. Es gibt hier nicht viel, dass einen zum Lachen bringt, aber die Reaktion von Neuen auf unsere Gourmet-Speisen entlockt mir immer wieder ein Schmunzeln. „Hör auf zu lachen, Chevallet!" Die rauchige Stimme von Benedict dringt durch den Mundschutz, den er tragen muss, zu mir durch. Benedict arbeitet bei der Essensausgabe und er kann mich nicht leiden, deswegen kriege ich auch immer die besonders leckeren Portionen - kurz gesagt - er ist ein Arsch. „Bishop, für dich gibt's heute die doppelte Portion. Lass es dir schmecken", wendet sich Benedict an Eleonora. Sein dreckiges Grinsen vertreibt mir den Hunger fast noch mehr als der widerliche Gestank, der mir den Magen regelmäßig ausleert, vorausgesetzt es ist mal etwas darin.

Benedict schiebt Eleonora einen extra großen Haufen Matsch rüber, während meiner eher klein ausfällt. Ein Glück. Viel hätte ich heute nicht herunter bekommen.

Nach dem Benedict sich und seinen dreckigen Wagen endlich weiter durch die Massen bewegt hat, sehe ich zu Eleonora. Sie tut mir fast leid, wie sie dasitzt, mit gesenktem Kopf und der Gabel in ihrer Hand, die das Essen mehr zerstochert als es in ihren Mund zu befördern. Ich erinnere mich an meine ersten Tage hier, ich war so verängstigt von den Massen und dem Gestank und ich wollte hier einfach nur raus. Mit der Zeit legt sich dieses Gefühl, aber es kommt einem vor, als würden die kahlen grauen Wände einen erdrücken. „Hey, Bishop...ähh Eleonora. Hör auf darin rumzustochern. Das macht es auch nicht appetitlicher." Ich musste mich daran erinnern, wie merkwürdig ich es zu Anfang fand, mit dem Nachnamen angesprochen zu werden. Ich hatte ihn ja selbst erst ein paar mal gehört, auf der Kinderstation wurden wir ja noch verhätschelt und mit einem Namen angesprochen, den wir uns selbst gegeben haben. Den Nachnamen haben wir erst später erfahren, es war der selbe, den unsere Eltern getragen haben, bevor sie, wie ich es nenne „erlöst" wurden. So kam es auch zustande, dass mein Name Lucas Chevallet ist. Alle anderen haben gesagt: „Nein, du kannst dich nicht so nennen. Lucas ist ein Jungenname", aber ich habe das nie verstanden. Jungen- und Mädchennamen, wo lag überhaupt der Unterschied? Mir gefiel Lucas, also habe ich mich so genannt. Ich sehe wieder zu Eleonora und frage mich, wie man nur auf so einen Namen kommt. Als ich meinen Namen wählen durfte, hatten wir Listen, die uns inspirieren sollten, ich habe sie mir nie ganz durchgelesen. Hat Eleonora drauf gestanden? Oder vielleicht Elenore oder Elena, dann war sie vielleicht kreativ. Was eine Verschwendung von Talent.

Ein leiser Seufzer entweicht mir. Ich sollte nicht weiter darüber nachdenken, es bringt doch sowieso nichts. Entweder haben mich die Betonmauern und die träge Masse unseres Trakts bald zerfressen oder ich ende bald, wie es das Schicksal für uns alle hier vorgesehen hat, das würde dann ungefähr so aussehen, dass ich erst noch einem weiteren unbeholfenen und unschuldigen Menschen den Freifahrtschein in diese Hölle geben würde, um anschließend auseinander genommen zu werden wie ein Ersatzteillager. Denn genau das sind wir alle. Ersatzteillager für die, die es ein bisschen glücklicher getroffen haben als wir. Obwohl glücklich in diesem Zusammenhang auch nur eine Sache der Perspektive ist. Die Menschen, die unsere Organe und Gliedmaßen bekommen, sind krank. Physisch und psychisch. Wie krank sie sein müssen, um Menschen wie Tiere in einem Stall zu züchten, nur weil sie Angst vor ein paar Wehwehchen haben. Ich habe mir geschworen, dass ich, wenn ich jemals einen von ihnen zu Gesicht bekommen sollte, ihm die Augen auskratze, so wie sie es mit uns tun, nur dass ich ihn vorher nicht betäube.

Die Teller werden wieder eingesammelt, noch bevor ich meine Pampe auch nur anrühren konnte. Ich bedauere es nicht. Das nächste Essen wird kommen, und das nächste, und das nächste. Ich habe schon oft darüber nachgedacht, einfach nichts mehr zu essen, aber die Genugtuung gebe ich ihnen nicht. Ich werde mich nicht zu Tode hungern.

Einmal am Tag werden die großen Tore geöffnet, um die Neuen von der Kinderstation zu uns zu bringen und die Lebenden-Toten hinaus zu lassen, um sie anschließend auszunehmen. Jedes Mal kurz bevor dies geschieht wird dreimal ein Gong geläutet. Alle die von dem Austausch nicht betroffen sind, werden dazu angehalten, so viel Abstand zwischen sich und die Tore zu bringen, wie auf diesem engen Raum nur möglich ist. Ich habe beschlossen, dies heute nicht zu tun. Ich will in die Gesichter der Neuen sehen, die das Ungewisse widerspiegeln und in die Gesichter der Lebenden-Toten, die wissen, dass ihr Tod bevorsteht. Es ist ein Kreislauf, und hier kann man das Karussell sich drehen sehen.

Ich kämpfe mich durch die endlosen Menschen, die in ihrem trägen Alltag gefangen sind. Ich will vorne stehen. Ich will ganz vorne mit dabei sein. Vielleicht sehe ich, was außerhalb der Tore ist. Oft habe ich es mir ausgemalt, aber ich habe doch keine Vorstellung davon. Ich kenne nur die grauen Mauern, die uns vor der Freiheit verstecken.

Als die Tore endlich aufgehen - langsam, qualvoll langsam - drehen sich alle weg. Alle außer mir, ich werde sehen, was dort ist, ich werde es sehen! Mein Blick wandert über die Rücken der andern, sie haben alle nicht genug Mut, sich dem zu stellen, was ihnen entgeht - ich habe ihn.

Mein Blick bleibt an einem jungen Mann hängen. Er ist groß und blass, und seine Augen stechen dunkel grün hervor. Er hat sich auch nicht umgedreht. Er sieht mich an. Ich weiche seinem Blick nicht aus. Es fühlt sich gut an zu wissen, nicht alleine zu sein.

Die Tore sind jetzt ganz geöffnet und Neue laufen neugierig umhersehend herein, während drei Lebende-Tote mit gesenktem Kopf hinaus schlurfen. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine rasche Bewegung zu meiner Linken wahr. Der Junge, der sich ebenfalls nicht weggedreht hat ist zu mir herüber gekommen. Er nimmt meine Hand und zieht mich hinter sich her. Ich wehre mich nicht. Warum nicht? Hier weiß ich, was auf mich zu kommt. Ich sollte mich einfach fügen, sollte mich ausnehmen lassen, aber das Neue reizt mich so. Es kribbelt in meinen Fingerspitzen, er bewegt sich genau auf den Ausgang zu, er will durch die Tore. Gleich werde ich sehen, was außerhalb ist.

Ich könnte vor Freude in die Luft springen, aber das würde uns nur unnötig Zeit kosten, in weniger als einer Minute werden die Tore wieder geschlossen. Ich kann hören, wie sie sich knirschend wieder in Bewegung setzen. Ich laufe schneller, ziehe den Jungen jetzt meinerseits. Immer schneller und schneller, so schnell mich meine Beine tragen. Nichts hindert uns daran die Schwelle zum Neuen zu übertreten. Anscheinend sind unsere Peiniger zu eingebildet für richtig Sicherheitsvorkehrungen. Sie denken Sie halten uns mit den kleinen Drohungen in Schach, aber so ist es nicht. Nicht mehr. Anscheinend hat es ja doch bisher ganz gut funktioniert.

Gerade als ich keine Luft mehr kriege und kaum noch rennen kann, realisiere ich, dass wir es geschafft haben. Wir sind draußen. Obwohl ich keine Luft mehr habe, fange ich an zu lachen. Ein greller Schein strahlt mir mitten ins Gesicht und wärmt dieses. Es fühlt sich so gut an. Die Sonne prickelt auf meiner Haut und ich drehe mich dreimal um mich selbst. Ich blinzle und sehe mich um. Alles ist bunt und nicht so eintönig wie in unserem Trakt. Eine weite Fläche liegt vor uns, die nur durch eine schmale Straße geteilt wird. Ich kann Vögel singen hören. Sie beglückwünschen uns, sie laden uns ein, mit ihnen zu singen und das tue ich, NaaNaaa Naaaa, immer wieder diese Töne. Ich muss lächeln, alles hatte einen Sinn. Die Jahre im Trakt, ich weiß nicht, was jetzt passieren wird, aber für diesen Moment macht es alles Sinn. Als hätte ich dafür gelebt. Nur um dies zu sehen. Es ist wundervoll. Eine leichte Brise weht um uns herum und spielt mit meinen Haaren. Es ist perfekt. Es ist so ein schöner Moment, ich wünschte, ich könnte ihn für immer festhalten.

„Mein Name ist Adam", durchbrach der Junge die laute Stille.



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