Der Neue

610 37 19
                                    

1. Kapitel: Der Neue

»Sieht doch gut aus, oder, Eren?«
»Mhm...«
»Ich bin mir sicher, dass es dir hier gefallen wird, mein Junge.«
»Mhm...«

Es gefällt mir nicht. Ich will hier nicht sein. Nicht allein.

Eren sprach die Worte nicht aus. Es war sowieso aussichtslos. Sein bester Freund Armin und dessen Großvater würden heute schon nach Deutschland fliegen, um dort neu anzufangen. Ihn würden sie hier allein zurücklassen. Sie meinten, hier würde es ihm gutgehen. Sie sagten, hier käme er endlich ein wenig mehr aus sich heraus. Sie dachten, es wäre das Richtige für ihn.
Doch was wussten sie schon?
Armin hatte ihn immer verstanden, ohne dass er viel reden musste. Wieso ließ er ihn also nun allein? Wenn er wollte, dass es ihm gutging, dann würde er Eren mitnehmen. Stattdessen verließ er ihn. Eren fühlte sich so leer wie schon lange nicht mehr.
Seine Koffer standen bereits mitten in seinem neuen Zimmer. Die U-förmig erbaute Schule, welche aus drei großen Gebäuden – Maria, Rose und Sina – bestand, war anscheinend einer der besten Schulen, die man sich vorstellen konnte. Sie bot nicht nur verschiedene Abschlüsse an, sondern auch allerlei Ausbildungen. Diese gingen drei Jahre, und danach konnte man sich entscheiden, ob man in diesem Beruf bleiben wollte, oder sich für etwas Anderes interessierte – was meistens bedeutete, dass man die Schule dann verließ.
Nicht viele bekamen einen Platz hier, daher war Eren doch sehr überrascht und verwirrt gewesen, als Armin ihm erzählt hatte, dass er hier sein eigenes und neues Leben beginnen könnte.
Aber er wollte das nicht.

Sein bester Freund wusste genau, dass er nicht gerne allein war und es ihm schwerfiel, neue Menschen kennenzulernen. Wenn er Eren wirklich helfen wollte, dann würde er hier bleiben. Doch er ging. Ohne ihn.
»Hey, Eren. Du schaffst das schon.«, sagte Armin sanft, und der Braunhaarige nickte lediglich. Er zog ihn in eine lange und innige Umarmung, sprach Eren aufmunternde Worte ins Ohr, doch hören tat er sie kaum. Es fiel ihm nicht leicht, Armin loszulassen. Der Blonde lächelte so freundlich wie immer, und Eren sagte nichts... so wie immer.
Auch sein Großvater umarmte Eren herzlich und wünschte ihm alles Gute für die Zukunft – so, als ob sie sich für eine lange Zeit nicht sehen würden. Es schmerzte.
Seit Jahren waren die beiden eine Familie für Eren gewesen und jetzt gingen sie einfach fort. Hier hatte er niemanden. Niemandem, mit dem er reden konnte. Niemandem, dem er sich anvertrauen konnte. Niemanden, der ihn verstand.
Allein, allein, allein... dieses Wort spukte Eren im Kopf herum und sorgte nur noch mehr dafür, dass es ihm schlechter ging. Armin müsste es wissen. Er müsste es doch eigentlich wissen. Müsste...
»Ich ruf dich an, sobald wir angekommen sind, okay?«, die Stimme seines besten Freundes riss Eren aus seinen trübseligen Gedanken. Mit wässrigen Augen sah er ihn kurz an, bevor er wieder auf den Boden starrte. Armin seufzte, umarmte den etwas Größeren noch einmal und verabschiedete sich mit einen kurzen, lieb gemeinten Winken. Sein Großvater tat dasselbe. Eren winkte schwach, mit zittriger Hand zurück.
Dann waren sie auch schon weg.

Eren schloss die Tür seines neuen Zimmers leise zu, bevor er zu dem einzigen breiten Fenster ging und hinaussah. Armin und sein Großvater überquerten schweigsam den Hof der Schule, wobei Armin jedoch noch einmal zu ihm nach oben blickte und leicht lächelte. Eren erwiderte es nicht. Armin wusste, dass er es vielleicht gedanklich tat; sich dazu zwingen wollte, es zu tun, es jedoch nicht schaffte.
Sein sanftes Lächeln verschwand nicht. Es blieb solange auf seinen Lippen, bis Eren ihn nicht mehr sehen konnte.

Andere Schüler rannten durch den Hof, unterhielten sich in der warmen Frühlingssonne, saßen zusammen auf Bänken oder picknickten. Sie sahen alle so glücklich und unbeschwert aus. Was war er dagegen? Ein Neuer, der kaum ein brauchbares Wort zustande brachte und Angst davor hatte, lange allein zu sein. Er war sich sicher, dass die Anderen ihn hier meiden würden; das taten die meisten Menschen. Das taten sie immer.
Armin... wieso kannst du nicht hier bei mir bleiben? Wieso musst du deinen Großvater nach Deutschland begleiten? Wieso lässt du mich hier allein zurück?
Seine Gedanken verschwanden nicht, sorgten stattdessen nur für Kopfschmerzen. Mit einem stillen Seufzer ließ er seine Augen weiter über den Hof wandern. Eine Gruppe von Lehrern und Ausbildern stand nahe am Eingang des Gebäudes Rose, in welchem sich auch Erens Zimmer befand. Rose und Sina waren ausschließlich für die Unterkünfte gebaut worden. Männer wurden im Gebäude Rose untergebracht und Frauen im Gebäude Sina.
Maria, das größte und beeindruckendste Gebäude, befand sich zwischen den beiden anderen. Dort gab es unzählige Klassenräume und Ausbildungseinrichtungen, sowie eine Cafeteria, eine Turnhalle und sogar eine Schwimmhalle.

Eren musste sich überwinden, sich nicht einfach jetzt sofort auf sein Bett zu legen und dort für den Rest des Tages zu verstecken. Das Wetter war perfekt für einen Spaziergang und für einen Rundgang über das große Gelände... vermutlich befand sich kein einziger Schüler in seinem Zimmer. Außer Eren natürlich.
Trau dich, Eren, flüsterte sein Unterbewusstsein. Du schaffst das schon.
Seine Hände zitterten noch immer etwas, als er sich vom Fenster abwandte und zurück zur Tür ging. Kurz verharrte seine Hand auf der Klinke, bevor er sie – trotz all seiner Hintergedanken – runterdrückte. Langsam schloss Eren die Tür seines Zimmers zu und steckte den Schlüssel in seine rechte Hosentasche. Wie erwartet befand sich niemand im inneren des Gebäudes. Obwohl es in den Gängen angenehm kühl war, verbrachten die Schüler ihre Freizeit draußen im Grünen, was ja eigentlich auch verständlich war. Was könnte also falsch daran sein, dasselbe zu tun?
Draußen kam ihm ein leichter Wind entgegen, der sein Haar nach hinten wehen ließ. Eren atmete tief ein und wieder aus. Er stieg die Eingangstreppen hinunter, vergrub die Hände in den Hosentaschen und war für einen kurzen Augenblick von einem braunhaarigen Mädchen abgelenkt, welches mit Kopfhörern in den Ohren nahe am Eingang des Hofes stand und währenddessen eine Kartoffel aß. Somit merkte Eren auch nicht, gegen wen er im nächsten Moment stieß und prompt ins Stolpern geriet. Gerade noch so konnte er sein Gleichgewicht halten und sich rasch zu dem Angerempelten umdrehen.
»Oi, hast du keine Augen im Kopf?«, fragte ihn eine tiefe Männerstimme, und Eren traute sich nicht, denjenigen ins Gesicht zu blicken.
Wortlos verbeugte er sich lediglich etwas und bat so um Entschuldigung, bevor er sich wieder umdrehte und schnellstens vor der kleinen Gruppe der Lehrer und Ausbilder verschwand. Nicht wissend, dass ihm vier Augenpaare verwirrt hinterherschauten.

Nachdem Eren das Gelände, den angrenzenden Sportplatz und die Cafeteria begutachtet hatte, ließ er sich auf einer der vielen Bänke im Hof nieder. Es würde schwer sein, sich hier einzuleben. Das alles war so neu für ihn. Seit dem Vorfall in seiner Kindheit war er nie lange von Armin getrennt gewesen. Eren verstand einfach nicht, wieso sein bester Freund wollte, dass er hierblieb. Hatte er irgendetwas falsch gemacht? War er Armin langsam auf die Nerven gegangen? Nein. Es musste etwas anderes sein. Nur was?
Eren biss sich auf die Lippen. Sein Blick war auf den Boden vor sich gerichtet, er war leer und voller Hilflosigkeit.
»Hey, du da!«, erneut wurden seine Gedanken unterbrochen, als Eren eine andere Stimme nach ihm rufen hörte. Erschrocken wendeten sich seine Augen vom Boden ab und richteten sich stattdessen auf einen näher kommenden Jungen. Dieser blieb wenig später etwas aus der Puste vor ihm stehen und strich sich flink ein paar hellbraune Strähnen aus seinem Gesicht. »Du bist doch der Neue, oder?«
Eren blinzelte und nickte anschließend einmal.
»Ich bin Jean Kirschtein, und du musst Eren sein, hab ich recht?«
»J-ja...«, seine Stimme klang brüchig und unsicher, doch Jean schien das gar nicht zu bemerken. Er ließ sich neben Eren auf der Bank nieder und seufzte lang aus.
»Muss ja scheiße sein, mitten im Jahr auf eine neue Schule zu kommen«, meinte er schlicht, ohne seinen Nebensitzer anzusehen. Eren nickte erneut. »Aber sag mal, Eren, stimmt es, dass du Probleme damit hast, neue Leute kennenzulernen?«

Woher weiß er das?, fragte Eren sich augenblicklich.
»Nein... ich meine...«
»Ach, kein Problem!«, Jean legte lachend seinen Arm um Erens Schulter. Eren wollte sich sich ihm entziehen, doch es gelang ihm nicht wirklich. »Wir sorgen schon dafür, dass es dir hier gutgeht!«
»Jean, lass ihn los.«, ein Mädchen mit schwarzen, schulterlangen Haaren stand urplötzlich neben Jean und hatte ihre rechte Hand auf dessen Schulter abgelegt. Der Griff schien schmerzhaft zu sein, denn der Hellbraune zuckte kurz erschrocken zusammen.
»He...hey, Mikasa...«, stotterte Jean, der seinen Arm schnellstens wieder zurückzog, und Eren sich prompt von ihm entfernen konnte.
»Wir beide sind Schulsprecher, also benimm' dich auch so«, sagte sie monoton, woraufhin Jean mehrmals hastig nickte. Die Schwarzhaarige wendete sich nun Eren zu, der eingeschüchtert dasaß und auf seine zusammengefalteten Hände starrte. »Eren?«, sie ging vor ihm in die Hocke und lächelte ihn sanft an. »Ich bin Mikasa Ackermann. Es freut mich, dich kennenzulernen.«
Zuerst wusste Eren nicht, was er sagen sollte. Die Sanftheit in ihrer Stimme erinnerte ihn sofort an Armin. Vorsichtig schüttelte er ihre angebotene Hand, die sich weich und warm anfühlte.
»Weißt du schon, wo dein Zimmer ist? Wo du morgen zur ersten Stunde hinmusst?«
»Ja... weiß ich.«
»Zu Sicherheit schreibe ich dir meine und Jeans Nummer auf, damit du dich bei uns melden kannst, wenn irgendetwas sein sollte, okay?«

Nachdem die drei ihre Nummern ausgetauscht hatten – worauf Jean nach einer kurzen Diskussion bestanden hatte –, begleiteten sie Eren noch zurück zu seinem Zimmer. Jean hatte seines im dritten Stock, zwei Stöcke über Erens.
Seine neuen, selbsternannten Freunde sagten, man könnte sein Zimmer so einrichten wie man es wollte, jedoch hatte Eren nie besonders viele Sachen gehabt. Er hatte sein Zimmer mit Armin geteilt und dieser hatte es mit Postern und Bildern ausgestattet.
»Wir können doch am Wochenende in die Stadt gehen und ein wenig bummeln, oder, Eren?«, schlug Mikasa vor, und Eren, so stumm wie eh und je, nickte lediglich.
Er war es nicht gewohnt, von jemandem, den er kaum kannte, so freundlich behandelt zu werden. Anfangs hatte er gedacht, es wäre nur eine Farce, doch nun merkte er, dass die Beiden es ernst meinten. Warum auch immer.
Mikasa und Jean verabschiedeten sich für den heutigen Tag, da sie noch zu einer Schülerversammlung mussten, und Eren erst einmal Zeit für sich geben wollten.
Zeit für mich. Allein. In diesem neuen und trostlosen Zimmer. Ich will nicht allein sein.
Aber er sprach die Worte nicht aus. Stattdessen saß er schweigend vor dem breiten Fenster und starrte hinaus in den Hof. Morgen war sein erster Schultag, seine Uniform lag griffbereit in seinem Schrank und alle benötigten Hefte, Bücher und Mappen lagen ordentlich gestapelt auf seinem Schreibtisch.
Diese Schule kam ihm irgendwie zu perfekt vor.

Nachdem Eren sich seinen Stundenplan gut eingeprägt hatte, sämtliche Bücher schnell durchflogen hatte und anschließend seine Klamotten und Habseligkeiten eingeräumt hatte, ließ er sich seufzend auf seinem Bett nieder. Die Matratze war weich, passte sich fabelhaft seinem Rücken an, und auch die zwei großen, rechteckigen Kissen würden für einen problemlosen Schlaf sorgen.
Jedoch konnte Eren sich nicht entspannen. Je dunkler es draußen wurde, desto unbehaglicher fühlte er sich. Aus Gewohnheit ließ er die Rollladen und die Vorhänge oben, damit so ein wenig Licht ins Zimmer scheinen konnte. Bis spät in die Nacht lag er wach, bevor er sich endlich dazu überwinden konnte, das Licht der Lampe auf seinen Nachtkästchen auszuschalten. Gleich danach holte er das kleine Nachtlicht, das ihn einst Armin geschenkt hatte, aus seinem Rucksack und steckte es in die Steckdose neben seinem Bett. Ohne dieses kleine Ding fiel es ihm noch schwerer, einzuschlafen.
Eren zog die Decke bis zu seinem Kinn, kuschelte sich in die Wärme und schloss die Augen. Sein Handy hatte in den letzten paar Stunden öfters vibriert, aber Eren hatte nicht groß darauf geachtet. Die Angst, die erste Nacht hier alleine zu verbringen, ließ ihn alles andere vergessen. Und Eren musste sich gar nicht erst fragen, wie es die nächsten Nächte sein würde.
»Armin...«, flüsterte er niedergeschlagen, bevor seine Augenlider sich langsam schlossen und er in einen unsanften Traum fiel.

Perfekt defektWo Geschichten leben. Entdecke jetzt