Kleines Spiel

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2. Kapitel: Kleines Spiel

Noch bevor sein Wecker klingelte, lag Eren wach in seinem Bett. Auf dem Bauch liegend starrte er auf die roten Ziffern und zählte die Sekunden mit, bis sein Handy vibrierte und ihn so aus seiner Starre brachte. Ohne dass seine Bewegungen viele Geräusche machten, nahm er es in beide Hände und entsperrte den Display. Drei verpasste Anrufe und zehn WhatsApp-Nachrichten. Armin, Mikasa und Jean hatten ihn geschrieben, und er hatte nicht geantwortet – wollte es jetzt auch nicht tun.
Als er Jeans Nachrichten las, dachte er sich seinen Teil.

Jean: Yo, Eren! Ich hol dich morgen Früh ab, also verschlaf' bloß nicht ;).

Eran hatte noch nie verschlafen. Stets war er vor dem Wecker wach, und fragte sich nebenbei immer wieder, wozu er ihn überhaupt brauchte. Vielleicht sollte er ihn einfach abstecken und ganz hinten im Schrank verstecken. Er brauchte ihn ja nicht. Er war nutzlos.
Es war sechs Uhr morgens, als er sich langsam erhob und ins angrenzende, kleine Badezimmer schlurfte. Eren rieb sich die Augen, zog seine Schlafklamotten aus und stellte sich unter die Dusche. Das kalte Wasser ließ ihn wach werden, ihn zittern, doch er stellte es nicht auf warm.
Wenig später, nur mit einem weißen Handtuch um die Hüfte gewickelt, stand er vor dem ovalen, rahmenlosen Spiegel und putzte sich die Zähne. Nachdem er mit seiner morgendlichen Toilette fertig war, ging er zum Schrank und zog seine neue Schuluniform an. Das weiße Hemd und die hellbraune Hose passten wie angegossen. Geschickt band er die weiß-blaue Krawatte unter dem Hemdbügel und legte den schwarzen Gürtel fest um seine Hose zusammen. Geschwind waren seine Schulsachen in der, mit vorhandenen, Tasche verschwunden. Er war bereit für seinen ersten Schultag.
Äußerlich, nicht innerlich.

Eren wartete vor seinem Zimmer auf Jean. Es war viertel vor sieben, somit hatten sie eigentlich noch genügend Zeit, um in der Cafeteria zu frühstücken. Doch sein neuer Mitschüler ließ auf sich warten, dabei hatte er doch gesagt, Eren solle bloß nicht verschlafen. Aber Eren war geduldig. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und sah den vielen männlichen Schülern hinterher, die sich auf ihren Weg machten. Manche lächelten ihn an, Andere nickten und wieder Andere hatten es zu eilig, um ihn überhaupt zu bemerken.
Gerade als Eren sich dachte, dass Jean ihn vielleicht nur belogen hatte, stieß er sich mit gesenktem Kopf von der Wand ab und wollte allein zur Cafeteria gehen, als sich ihn aber jemand Großes in den Weg stellte. Abrupt blieb Eren stehen und sah hinauf.
»Eren Jäger?«, fragte ihn der großgewachsene Mann, mit blonden Haaren und auffällig dicken Augenbrauen.
»Ja...?«
»Ich bin Erwin Smith, der Rektor dieser Schule«, stellte er sich freundlich vor und hielt ihm seine rechte Hand hin. »Es freut mich, dich hier begrüßen zu dürfen. Hast du schon jemanden kennengelernt?«
»Äh, j-ja...«, stotterte er eingeschüchtert, schüttelte aber die angebotene Hand. Es war ein kurzer Händedruck, wie man ihn tausendfach mit anderen Menschen austauschte.
»Findest du den Weg zur Cafeteria?«, Eren wollte antworten, wurde aber durch seinen laut ausgerufenen Namen unterbrochen. Jean kam auf ihn zugerannt, mit nicht richtig gebundener Krawatte, zerzausten Haaren und einem offenen Schnürsenkel.
Schnaufend kam er neben Eren zum Stehen. »Tut mir leid, hab verpennt...«
»Schon okay«, erwiderte Eren, bemerkte allerdings, dass die Augen des Rektors auf ihn gerichtet waren.
Er tat so, als würde er es nicht bemerken.

Gemeinsam gingen die beiden Jungen zur Cafeteria. Nachdem sich der Rektor von ihnen verabschiedet hatte, hatte er Jean noch zugeflüstert, dass er sich so lieber nicht im Unterricht zeigen sollte. Nun war der Hellbraune immer noch etwas rot um die Nase und schaffte es, während dem Gehen, seine Klamotten zu richten.
Als Eren zusammen mit Jean die Cafeteria betrat, musste Ersterer erst einmal schlucken. Der große Raum war voll von Schülern und Lehrern. Die Schlange an der Theke war kaum zu zählen, und auch die ganzen Tische und Stühle konnte Eren nicht wirklich schätzen. Inmitten all diesen Chaos, entdeckte er Mikasa.
Sie saß zusammen mit ein paar anderen Schülern an einem runden Tisch und winkte ihm und Jean freundlich zu.
»Guten Morgen, Eren«, sagte sie, als sich beide zwischen sie gesetzt hatten. Mikasa hatte nämlich extra zwei Stühle freigelassen. »Hast du gut geschlafen?«
Nein, habe ich nicht.
»Ja, einigermaßen.«, log er mit einem Lächeln, welches seine Augen nicht erreichte. Sie alle bemerkten es nicht.
»Das kommt schon noch. Soll ich dir die Anderen mal vorstellen?«, ohne auf seine Antwort zu warten, legte sie auch schon los. Es ging der Reihe nach. »Die hier neben mir ist Sasha, dann kommen Connie, Christa, Ymir und Marco.«
Sasha erkannte Eren noch von gestern. Sie war das Mädchen gewesen, welche draußen auf dem Hof eine Kartoffel gegessen hatte... ziemlich irritierend, dass sie die Einzige war, die ihn nicht ansah, sondern vollkommen auf ihr Frühstück fixiert war. Connie war sehr aufgeweckt und tollpatschig, Christa eher schüchtern und lieb, Ymir war sehr herrisch und direkt, zu Christa allerdings pflegte sie eine besondere Freundschaft, und Marco war sehr optimistisch und überaus freundlich.
Zusammen waren sie eine komisch, harmonierende Clique, in der Eren herzlich willkommen wurde.

»Mikasa, du bist echt ein Schatz.«, säuselte Jean wenig später, als sie ihm und Eren zwei Tabletts vor die Arme schob; wenn man hier nämlich zu spät kam, konnte es schon mal sein, dass man wegen der langen Warteschlange keine Zeit mehr hatte oder einfach nicht drankam. Erens Tablett war beladen mit Pancakes, gebratenen Frühstücksspeck, Würstchen und Spiegeleiern.
»Ähm...«, eigentlich hatte Eren überhaupt keinen Hunger. Unschlüssig besah er sich die duftenden Lebensmittel, ohne das Besteck anzufassen.
»Bist wohl zu aufgeregt, oder?«, fragte Connie keck, und schnappte sich blitzschnell eines seiner Würstchen.
»Das ist ja auch vollkommen verständlich, Eren, mach dir da keinen Kopf.«, Marco lächelte ihn an und Eren lächelte schüchtern zurück.
»Die anderen hätten übrigens nichts dagegen, Eren.«
»Was meinst du?«, Eren sah seine schwarzhaarige Nebensitzerin an, während die anderen sich sein Frühstück untereinander aufteilten.
»Dass wir am Wochenende in die Stadt fahren.«
»Oh...«

Mikasa hatte ihre Augen auf ihn gerichtet. Sanft lächelnd wartete sie auf seine Antwort, die allerdings nur leise und mit Vorsicht ausgesprochen wurde.
»Wenn ihr nichts dagegen habt...«
Mikasa lachte kurz auf und knuffte ihm in die Wange, worauf er jedoch ein wenig von ihr wegrückte. »Ich hab dir doch schon gesagt, dass es ihnen nichts ausmacht. Wir freuen uns darüber, Eren.«
Eren war noch immer unsicher. Vielleicht war sie ja nur so nett, weil sie Schulsprecherin war? Und vielleicht taten die Anderen auch nur so, als ob sie ihn mögen würden... er wusste es nicht. Eren besah sich jeden seiner neuen Mitschüler an diesem Tisch noch einmal. Nichts deutete darauf hin, dass sie es nicht ernst meinten. Sie waren eine aufgeweckte Gruppe, sehr beliebt wahrscheinlich auch noch. Halfen sie Eren nur, weil er nicht so war wie sie? Aufgeweckt, beliebt, gesprächig, lustig, aufmunternd... er... er konnte es sein, wenn er wollte. Tief in seinem Inneren wusste Eren, dass er es sein konnte. Keiner würde es bemerken, wenn er den Falschen spielen würde.
Warum also fiel es ihm so schwer, es einfach zu tun? Armin hatte seine Schweigsamkeit schon lange akzeptiert, hatte sich nie groß darüber aufgeregt, denn meistens war er es gewesen, der stundenlang über ein Thema reden konnte. Eren hatte ihm immer gerne zugehört, vermisste nun die Zweisamkeit zwischen ihnen.
Unbewusst ballten sich seine Hände zu schwachen Fäusten zusammen.

Connie und Sasha waren die Einzigen, die zusammen mit ihm in einer Klasse waren. Die Anderen verabschiedeten sich nach dem Frühstück und gingen gemeinsam Richtung Ausgang, da sie in den ersten beiden Stunden Sportunterricht hatten.
Obwohl sie schon fünf Minuten vor Unterrichtbeginn da waren, saß ihr Lehrer schon recht gelangweilt auf einem schwarzen Drehstuhl vor dem Pult. Er sagte nichts, als sie eintraten, hatte seine Augen auf einen dünnen Stapel voll Blätter gerichtet. Als auch Connie und Sasha nichts zu ihm sagten, tat Eren dasselbe. Sie setzten sich in die letzte Reihe, direkt ans Fenster. Connie flüsterte Eren zu, welche Bücher er bräuchte, und er holte sie geflissentlich aus seiner Schultasche.
Als die Schulglocke pünktlich klingelte, stand Erens neuer Lehrer auf, ging zur Tür und schloss diese ab. Mit einem desinteressierten Glanz in den Augen wendete er sich dann direkt an Eren.
»Du bist Eren Jäger?«, fragte er, und Eren nickte hastig. Er erkannte die tiefe Stimme seines Lehrer von gestern – es war genau die des Mannes, welchen er aus Versehen angerempelt hatte.
»Ja, Sir.«
»Lass' den Scheiß, nenn' mich einfach Levi.«
Unsicher war Eren einen Blick auf Connie, der neben ihn saß. Dieser jedoch zuckte nur kurz mit den Schultern, was wahrscheinlich so viel bedeuten sollte, dass dieser Levi anscheinend immer so drauf war.

Nur kurz hatte Eren die Gelegenheit, Levi etwas genauer zu betrachten. Er hatte kurzes, schwarzes Haar und einen Undercut. Seine grauen Augen wirkten einschüchternd, trotz seiner ungewöhnlichen Körpergröße. Eren fand es ungewohnt, zu einem Lehrer nicht hinaufzusehen zu müssen. Und irgendwie fühlte er sich in seiner Gegenwart unwohl... was vielleicht auch an dem eindringlichen Blick liegen konnte, den Levi ihm zuwarf.
»Äh, was...?«, fragte Eren murmelnd, wobei ihm zugleich wärmer wurde.
»Ich sagte, wer zu spät zu meinem Unterricht kommt, der kann solange draußen warten. Das gilt für jeden, auch für die jetzigen Idioten, die so ein Radau machen.«, tatsächlich hörte Eren von draußen zwei männliche Stimmen nach ihrem Lehrer rufend, bittend, ihnen die Tür aufzumachen. Doch Levi überhörte sie schlicht und teilte der Klasse ein paar Blätter aus.
Mit strengem Blick lief er die Reihen entlang und las die Fragen des Aufgabenblatts laut vor. Eren fragte sich nebenbei, wieso Levi Geschichte unterrichtete. Für ihn sah er eher wie ein Sportlehrer aus, aber nun gut, er wusste ja noch nicht, welche anderen Fächer Levi übernahm. Er hoffte, er hatte ihn nicht auch noch in Mathematik.
»Wer gründete das Deutsche Reich von 1871?«, Levi blieb seitlich hinter Eren stehen, die Augen über die Klasse schweifend.
Otto von Bismarck
Eren schrieb die Antwort auf, sagte sie jedoch nicht laut. Levi verharrte an Ort und Stelle.
»Welches Land hatte im Zweiten Weltkrieg die meisten Toten zu beklagen?«
Und wieder blieb Eren stumm. Russland, dachte er und schrieb es auf.

So lief es die nächste halbe Stunde ab. Die Fragen waren nichts weltbewegendes, fand Eren. Für Geschichte interessierte er sich recht viel, und da Armin nun in Deutschland lebte, hatte Eren sich in letzter Zeit mehr mit diesem Land beschäftigt, als er eigentlich wollte.
Connie und Sasha hatten Ärger bekommen, weil sie meinten, mitten im Unterricht Blödsinn zu machen. Sie hatten sich gegenseitig mit kleinen, zusammengerollten Papierfetzen beworfen, welche sie jetzt wieder aufheben mussten. Bei dem Blick, den Levi ihnen geschenkt hatte, hatten sie keinerlei Widerworte ausgesprochen.
Eine Stunde später klingelte es dann für eine zehn Minuten Pause. Eren packte seine Sachen zurück in die Tasche und wollte gerade seinen neuen Freunden folgen, als er aber noch von Levi zurückgerufen wurde. Dieser saß auf seinem Drehstuhl, mit einen dunkelblauen Kuli in der rechten Hand, sein Augenmerk auf ihn richtend.
»Schließ' die Tür«, sagte er lediglich und Eren tat, wie geheißen, auch wenn er es langsam aber sicher mit der Angst zu tun bekam. Was will er noch von mir?, fragte er sich gedanklich, während er die Tür schloss und sich dann wieder zu seinem Lehrer umdrehte. „Warum hast du vorhin nicht laut geantwortet?«
»Sir?«, etwas überrumpelt stand er da und sah seinen Lehrer an.
»Vorhin, die Fragen die ich gestellt habe, du hast die Antworten für dich behalten. Wieso? Bist du schüchtern? Bist du auf die Fresse gefallen?«

Um ehrlich zu sein, hatte Eren nicht mit solcher Offenheit gerechnet. Lehrer durften doch nicht so... so sein. Oder doch? War es hier anders? Wo hatte Armin ihn eigentlich alleingelassen?
»Ich, ähm...«
»Du, ähm, was?«
»Nichts...«
Levi stieß leise die Luft aus. Er drehte sich nun gänzlich mit dem Stuhl zu Eren, verschränkte die Beine und blickte ihn herausfordernd entgegen.
»Ein kleines Spiel, Jäger?«
Erens Augenbrauen zogen sich fragend zusammen. »W-was für ein Spiel, Sir?«
»Ich sage irgendein Wort und du antwortest so schnell wie möglich mit einem Gegenstück davon«
»Wieso?«
Levi zuckte mit den Schultern. »Ich denke, in dir steckt mehr, als du selbst denkst.«
»Sie kennen mich nicht.«
»Muss ich das?«
Vielleicht sollten Sie es, dachte Eren. Er kannte ihn gerade mal zwei Stunden und schon behauptete er so etwas? Entweder er nahm sich immer so viel heraus, oder... er wusste es tatsächlich besser.
»Na gut, fangen Sie an...«

Levi erhob sich, nur um sich gleich danach rücklings gegen die saubere Tafel zu lehnen. Er verschränkte die Arme vor der Brust, überlegte kurz und fing dann an.
»Pferd«
Eren musste nicht lange überlegen. »Laufen«
»Blut«
»Schmerzen«
»König«
»Unterwerfung«
»Macht«
»Krieg«
»Rache«
»Hass«
»Die See«
»Tot«
»Freund«
»Loyalität«
»Liebe«
»Zuneigung«
»Junge«
»Mädchen«

Der Blickkontakt blieb solange bestehen, bis Eren merkte, was er da überhaupt tat. Abrupt senkte er seinen Kopf, spürte erneut die Wärme in seinem Gesicht. Levi sagte nichts.
Was sollte das denn bringen? Was war das für ein Spiel? Und wieso... wieso hatte er überhaupt mitgespielt? Was wollte Levi damit erreichen? Dass er mehr sprach? Dass er sich wie ein Idiot vorkam? Bestimmt. Was sollte es denn sonst sein?
Zum ersten Mal verkniff sich Eren ein erzürntes Lächeln.
»I-ich muss jetzt gehen, Sir... auf Wiedersehen.«, er setzte das Schüchterne wieder auf. Sollte Levi doch denken, was er wollte. Eren wusste es besser. Er wusste, was er konnte, und was nicht.

Er wusste es viel besser.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 01, 2015 ⏰

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