Elva war niemand. Für sie war nie ein Platz. Nicht hier. Elva störte. Egal wo. Sie wollte es beenden. Andere erlösen. Keine Last mehr sein. Höher fliegen.
Sie stand da oben. Zitternd und ohne jegliche Mimik. Fast schon, als wäre sie tot. Aber sie war es nicht. Ihre Beine sahen dürrer aus, als alle es geglaubt hatten. Sie hatte ihre Augen nicht geschlossen. An ihrer Wange liefen Tränen hinunter. "Elva. Komm hier runter". Die Stimmen, die sich das erste Mal sorgten, die Stimmen, die voller Entsetzen waren, diese Stimmen, schallten an ihr ab. Ein lautes dröhnen hörte sie in ihren Ohren, das Blut rauschte. Endlich würde sie stärker sein. Fast schon, fieberte sie dem Aufprall entgegen. Hart. Unschön. So wie das Leben, das sie endlich beenden konnte. Ihre Hände hatten sich zu Fäuste geballt, die Knöchel weiß verfärbt. Alle, alle würden ihren Fehler bemerken. Dass sie, sie zerstört hatten. Aber sie würde davon nichts mehr mitbekommen. Ihre Füße trugen sie ein Schritt näher zur Kante des Daches. Unter ihr war eine Traube von Lehrern, Schülern. Sie weinten und schrien. Aber Elva war doch schon lange tot. Elva lebte nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Nur wollte sie ihren Körper auch endlich in den Tod stürzen. Einmal im Leben wollte sie kein Feigling sein, nicht kneifen. Das erste und letzte mal in ihrem Leben. Selbstmord war egoistisch. Und sie war gerne ein Egoist, wenn sie sich dafür erlösen konnte. "Du bist verrückt. Komm runter". Wieder eine von diesen Stimmen. Sie war verrückt. Aber nicht mehr lange. Dann war sie nicht mehr verrückt, sondern tot. Einen Moment dachte sie daran, dass ihr kleiner Sohn weinen würde, sie vermissen würde. Seine weichen Hände, die immer zu ihr Gesicht umfassten. Doch sie war zu jung für einen Sohn. Es war ein Fehler. Sie dachte an alles, was man ihr angetan hatte. Die Jungs, die auch hier unten standen, hatten ihr Leben zerstört. Sie hatten ihre dreckigen Finger nicht von ihr lassen können. Machten ihr Leben zur Hölle. Was aus ihrem Sohn wohl werden würde? Würde er zu einem der Schweine kommen? Immerhin war einer von ihnen der Vater. Der Wind blies durch ihr Haar ,verzweifelt. Ihr Körper sehnte sich nach Erlösung. Sie war keine Schlampe. Die dreckigen Männer, hatten sie zu einer gemacht. Es war nicht freiwillig. Ob ihr Sohn eines Tages glücklich werden würde? Was würde man ihm erzählen? Deine Mutter ist gestorben. An einem Autounfall. Sein Lachen. Es würde ihr fehlen. Sie ging noch ein bisschen näher an den Abgrund. Es war hoch. Gut hoch. So hoch, dass es sicher war, dass sie den Aufprall nicht überleben würde. Niemals. Ihre Füße, die Barfuß, den harten Beton des Daches berührten, krampften sich zusammen. Sie waren kalt. Kalt wie die Menschen da unten. Sie sollten sehen, was sie angerichtet hatten. Würde man ihrer Geschichte endlich glauben schenken? Würde man endlich ihr und nicht den Jungs glauben? Ihre Füße schauten nun schon zur Hälfte über dem Dach hervor und sie hatte mühe, dass Gleichgewicht zu halten. Wie sehr sehnte sie sich danach, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Augenblick, in dem ihr Herz aufhören würde zu schlagen, ihre Lunge sich zuschnürte und sie ihre Augen schloss. Höher fliegen. Endlich fallen. Gleichgewicht verlieren. Nicht mehr mit dem Strom schwimmen. Anders sein. Alleine. Sie ging noch weiter nach vorne. Keine Ahnung, ob sie sich noch halten hätte können, sie wollte sich nicht halten. Sie verlor das Gleichgewicht. Die Augen schlossen sich, um sie herum verschwamm alles. Es tat weh. Ein Schmerz, der nichts mit Erlösung zu tun hatte. "Wenn sich so tot sein anfühlt, dann möchte ich lieber wieder leben". Doch es war zu spät. Die Entscheidung war gefallen. Sie konnte höher fliegen, weil sie tiefer gefallen war. Sie verlor ihr Gleichgewicht für alle Mal.
DU LIEST GERADE
Gleichgewicht verlieren
Short Story"Wenn sich so tot sein anfühlt, möchte ich lieber wieder leben" - tot sein - sich tot fühlen - sterben - gestorben sein