„Darüber denkst du nach? Hast du denn schon Antworten?", fragte er amüsiert. Sky blickte ihn an. Wieso war er so...anders? „Ich fürchte nicht sehr viele," antwortete sie zögernd. „Wieso bist du noch hier?" Der Junge starrte sie an und antwortete dann: „Nun...ich denke ich lebe hier."
„Nicht mehr.", erwiderte sie nervös unter seinen Blicken. „Doch...immer noch.", meinte er leicht schmunzelnd. Sky schüttelte den Kopf,nicht wissend was sie damit überhaupt ausdrücken wollte und fragte stattdessen: „Wo gehen wir hin?"
„Schau.",erwiderte er und sie spürte wie er sie leicht und behutsam im Nacken berührte, um ihren Kopf zu drehen. Alles kribbelte. Fast schon unangenehm gut. „Siehst du das Gebäude dort hinten?" Sky kniff die Augen zusammen und bemerkte tatsächlich ein kastenförmiges Haus mit einem kleinen Anbau, dem sie schon überraschend nah gekommen waren. „Was ist das?", fragte sie zögerlich. „Ein kleines Krankenhaus." Sie hätte beinahe spöttisch aufgelacht. Ein Krankenhaus? Wollte er sie etwa retten? Oder er sich? Es gab nichts mehr zu retten. Es war zu spät. Sie würden sterben. Erneute Verzweiflung keimte in ihr auf, doch sie unterdrückte es mit einem schweren Schlucken. Der Junge fuhr fort: „Keine Angst, alle Patienten sollten verlegt worden sein. Wir werden alleine sein."
„Und was tun wir da?", fragte sie und schaffte es nicht ihren spöttischen Unterton zurückzuhalten. Doch er überging es einfach und antwortete: „Ich bin mir sicher, dass sie dort noch Wasser haben."
Das klang vernünftig. Schon beim dem Gedanken daran schien ihr Rachen höllischer zu brennen als zuvor und sie leckte sich über ihre aufgerissenen Mundwinkel. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Auch Wasser würde nichts bringen. Man konnte das alles nicht rückgängig machen. Wieso tat er so als ob? Was wollte er noch erreichen? Sky zuckte zusammen, als der Junge ihre Hand fester drückte. Sie wagte nicht ihre Finger zu bewegen, um sie noch mehr an seine eiskalte Haut zu schmiegen. Sie versuchte sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Ein- und Ausatmen. Die Staubpartikel wurden in einem Wirbel erfasst und tanzten vor ihrem Mund. So unschuldig und doch so gefährlich. Sie begann jeden Atemzug zu zählen.
1,2, 3,...
Vergeblich versuchte sie den Takt an ihre Schritte anzupassen. Ihre Gedanken wirbelten umher, ergaben keinen Sinn mehr, nur unförmige Strudel und Figuren, die knapp eine Sekunde in ihrer vollendeten Form verharrten und sich dann wieder auflösten, um sich neu zu mischen. Traurigkeit durchfuhr ihren Körper. Wie konnte man innerhalb so kurzer Zeit die Kontrolle über sein ganzes Leben verlieren? Nichts, rein gar nichts,war so wie es sein sollte. Nach und nach hoben sich mehrere verknüpfte Gedanken aus den Wirbeln. Darunter das Bild ihres Vaters. Sky schüttelte ihren Kopf, um das Bild zu verdrängen, aber dadurch schien es sich nur noch stärker in ihre Gedankengänge zu brennen.Schlagartig wurde ihr bewusst, dass ihr Vater ihr einziger Verwandter war. Ausgerechnet er, der sie vor elf Jahren alle hatte sitzenlassen. Ihm war es egal gewesen, ob Sky gesund aufwuchs. Er hatte sich nicht einmal erkundigt. Die ganzen Jahre kein einziger Anruf. Kein Lebenszeichen. Sie hatte gelernt ihn zu vergessen.Gelernt sich keinen neuen Vater zu wünschen. Und ausgerechnet jetzt war er Teil ihrer Gedanken. Sie würde ihn nie wiedersehen. Sie würde sterben und ihr Vater würde es nicht einmal mitkriegen. Vielleicht würde er sich in zwanzig Jahren fragen, was eigentlich aus seinen beiden Töchtern geworden war. Oder er saß gerade in diesem Moment auf der anderen Seite der Welt und die Katastrophenmeldungen schlugen ihm entgegen. Vielleicht erinnerte er sich dann, dass in diesem Gebiet seine ehemalige Familie gewohnt hatte. Oder aber er hatte sie schon längst vergessen. Es war Sky ehrlich gesagt egal. Tatsächlich zog sich der Gedanke zurück und tauchte mit einem eleganten Kopfsprung wieder wieder in die Wirbel ein.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch ihre Atemzüge zählte.
80,81, 82,...
Während sie die Zahlenreihe regelmäßig weiterführte spürte sie plötzlich,wie der Junge sich anspannte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie zu ihm aufblickte. Seine goldenen Augen schienen stärker zuglänzen. Ein hauchfeiner Ausdruck von Anspannung formte sein Gesicht. Sky stolperte ihm nach, als er sein Tempo anzog. „Was ist?", fragte sie zäh. „Wir bekommen Besuch.", erwiderte erfinster. Nun rannten sie schon fast. Der Staub stob in riesigen Wolken zur Seite und trübte ihre Sicht. Besuch? Was meinte er? War es nicht gut wenn sie jemand fand? Andererseits, was würde das nützen? Ihr Leben würde künstlich um ein paar Minuten verlängert.Unnötig. Lieber hier friedlich einschlafen. Keine Hektik. Lief der Junge deshalb weg? Weil er in Ruhe sterben wollte? Sky schnaufte.Ihre Beine waren schwer wie Blei und wie sie es schaffte zu laufen war ihr ein Rätsel. Die Müdigkeit drohte sie wieder zu überkommen.Die Müdigkeit vor dem Tod. Ihr Blick verzerrte sich in unregelmäßigen Abständen. Schwindel erfasste sie. Dann lag etwas auf dem Boden. Ein Ast, ein Stein, sie wusste es nicht. Ihre Füße verhakten sich darin und schon als sie fiel war ihr bewusst, dass ihre Knie ihr nicht mehr erlauben würden wieder aufzustehen. Denn sie waren wie Gummi. Kraftlos. Sie schloss die Augen. Wartete auf den Aufprall. Doch er kam nicht. Stattdessen fing sie etwas auf. Es war weich. Und kalt. Der Arm des Jungen.

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bleeding dust
VampireDie Geschichte nimmt euch mit in eine Welt voller Liebe und Verzweiflung. In eine Welt vor dem Tod. Sky war ein ganz normales Mädchen. Bis zu dem einen Moment, der alles verändern sollte. Es war ein geheimnisvoller Junge, der ihr Leben rettete - Rye...