Kapitel 4

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Es war an einem Donnerstag. Ich saß im Übungsraum vor einem der elektrischen Keyboards und hatte gerade den Teil des Liedes fertig gespielt, den Tay schon geschrieben hatte. Nicht fehlerfrei. Aber bis dahin wäre es wohl noch ein langer Weg. Noch immer hatte ich das Gefühl nicht atmen zu können, sobald ich eine der Tasten hinunter drückte.
Die ganze letzte Woche war ich in den Übungsraum gekommen und hatte stumm das Lied gespielt, bis ich mich endlich getraut hatte das Keyboard einzuschalten. Ich hatte kein einziges Lied gespielt, was ich damals kannte. Ich hatte zu viel Angst zu versagen. Es war schlimm genug, dass ich so ein recht einfaches Stück, wie das von Tay, nicht sofort fehlerfrei beherrschte, sondern immer an den unterschiedlichsten Stellen rauskam, die falsche Note spielte oder nicht so schnell hinterherkam.
Ich schaute vom Keyboard auf, wischte meine schweißnassen Hände in meiner Hose ab und da bemerkte ich ihn aus dem Augenwinkel.
Langsam drehte ich den Kopf in Richtung Tür. Er stand dort, schaute mich durch das Glas hindurch an. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Haare wirr in der Stirn. Seine Augen glänzten und ein verschmitztes und zufriedenes Lächeln hatte sich auf seine Lippen geschlichen.
Regungslos starrte ich ihn an. Mein Herz machte einen Satz. Ich war unfähig zu reagieren. Sollte ich aufstehen? Sollte ich zu ihm gehen? Würde er hereinkommen?
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und konzentrierte mich darauf gleichmäßig zu atmen.
Es war nur Tay, ermahnte ich mich. Er war immer derjenige gewesen, der mich hatte spielen hören. Ich hatte keine Angst vor ihm zu versagen. Oder doch? Mittlerweile hatte sich so einiges verändert und damit war auch der Drang in mir entstanden Tay zu beweisen, dass ich noch spielen konnte. Wenn ich es schon nicht mir selbst beweisen konnte, dann doch zumindest ihm.
Die Schulglocke war in diesem Moment meine Erlösung. Tay drehte sich wortlos vom Fenster ab und schlenderte los zu seiner ersten Stunde. Die er mit mir hatte. Ich schüttelte den Kopf, versuchte meine rasenden Gedanken zu fangen, packte meine Notenblätter zusammen und verließ den Übungsraum. Eine Sekunde hatte ich befürchtet, Tay würde hinter der nächsten Ecke auf mich warten. Doch er war nicht mehr zu sehen.
Es war nur Tay, es war nur Tay, predigte ich immer wieder in meinem Kopf. Er wollte, dass ich spiele und er hatte mich dabei ertappt, wie ich heimlich übte. Wo wäre das Problem?! Er wusste sicher ganz genau, warum ich nicht zuhause spielte. Und er würde auch wissen, warum ich mich nach unserer letzten Auseinandersetzung nicht im Baumhaus würde blicken lassen. Ich atmete tief durch. Ich beschloss die Gedanken von mir zu schütteln und einfach so zu tun, als wäre nichts gewesen. Und das schien auch Tay für sich entschieden zu haben.

    Der Unterricht konnte nicht langsam genug enden. Zwar ignorierte mich Tay seit der Sekunde, in der ich das Klassenzimmer betreten hatte, doch irgendetwas störte mich dennoch daran. Mich nervte Hana, die unaufhörlich kleine Zettelchen durch die Reihen wandern ließ. Tay öffnete die Zettel, las sie und warf sie achtlos auf den Tisch. Manchmal lachte er und manchmal schüttelte er belustigt den Kopf. Doch nie schrieb er einen Zettel zurück.
Als die Stunde zu ende war, bekam ich mit, wie Hana sofort nach vorn zu Tay's Tisch eilte und sich darauf mit ihrem kleinen Hintern niederließ. Tay lächelte sie freundlich an, doch ich bildete mir ein, eine genervte Nuance darunter zu erkennen. Ich bemerkte viel zu spät, dass nur noch wir drei im Klassenzimmer waren. Hektisch kramte ich meine Sachen zusammen und wollte auf dem schnellsten Weg in den belebten Flur flüchten.
„Also wegen heute Abend...", war das letzte was ich hörte. Hana trällerte in ihrer zuckersüßen Stimme und grinste Tay an. Ich fragte mich unwillkürlich ob Hana wohl eine gute Sängerin war. Ihre Stimme ließ dies vermuten. Hatten Hana und Tay heute ein Date?! Ich hasste mich selbst dafür, dass ich mich so sehr für derart belanglose Dinge interessierte und im gleichen Moment fragte ich mich, wann es nicht mehr belanglos geworden war.
Verwirrt eilte und ich durch die Gänge zu meinem Spind. Ich war so in Gedanken verloren, dass ich gar nicht bemerkte, dass der Platz vor meinem Spind schon besetzt war. Ich rannte geradewegs in Luan hinein. Er hob abwehrend die Hände.
„Hey, hey, nicht so stürmisch.", lachte er.
„Tschuldigung.", murmelte ich.
Er trat einen Schritt zur Seite, sodass ich meine Hefte in den Schrank räumen konnte.
„Mal wieder ganz schön durch den Wind, hm?!", bemerkte er.
Ich schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Seine blonden Locken hingen ihm Kraus ins Gesicht und seine warmen Augen strahlten mich vertraut an. Das Licht im Gang ließ seine blasse Haut goldener denn je erscheinen.

Piano Girl - Im Herzen spielt die MusikWo Geschichten leben. Entdecke jetzt