Die Schildkröte und die beiden Enten

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Der Leichtsinn trat an eine Schildkröte heran: Des Uferloches müd will sie die Welt besehen.
Man schaut sich gern ein neues Stückchen Erde an,
Wer hinkt, pflegt gern aus dem verhassten Haus zu gehen,
Sie, teilt zwei Enten mit, was sie ersann.
Die stimmten bei und bieten sich ihr als Gespann
Für eine Luftfahrt an bis nach Amerika.
Sie sagten: "Vieles siehst du da, Gar manche Republik und manches Königreich, Völker und Sitten andrer Art als hier am Teich. Da lernt man! Auch Ulysses hat es so gemacht." Ulysses - welch verwegener Vergleich!
Wer hätte hier an den gedacht! -Bald war man einig, wie die Fahrt zu machen sei.
Im Vorbeireiten waren sie nicht faul: Die Enten brachten einen Stock herbei, Den schoben sie der Schildkröt quer durchs Maul. "Jetzt gilt es," sagten sie, "recht fest zu fassen, Und hüte dich, ihn loszulassen!"
Das Vogelpaar ergriff den Stock an beiden Enden Und flog mit seiner Bürde auf.
Da gab es überall ein Augenwenden,
Verwundert sah man in die Luft hinauf. "Kommt," rief man, "kommt und seht! Die Königin Der Schildkröten zieht durch die Wolken hin."
"Ja, in der Tat: die Königin," Erklangs von droben; "keiner soll zu spotten wagen!"
Sie hätte besser dran getan,
Kein Wort darob zu sagen
Und schweigend fortzuziehn auf ihrer hohen Bahn.
Dass sprechend sie das Maul geöffnet, muss sie büssen: Sie sank vom Stecken, der ihr Stütze bot,
Und lag zerschellt den Schauenden zu Füssen. Schwatzhaftigkeit war schuld an ihrem Tod.

Neugier, Dummheit, Albernheit, Prahlsucht und Geschwätzigkeit Sind einander eng verwandt, Sind fünf Finger einer Hand.

- Jean de La Fontaine 1621-1695, französischer Schriftsteller -

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