Ein Sturm zieht auf

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Das Wetter war trüb. Schon seit ein paar Wochen war es trüb und neblig, manchmal regnete es sogar. Die Straßen waren nass und schmutzig, auf dem unebenen Kopfsteinpfalster war es schwer, nicht auszurutschen.
Trotzdem lief ich so schnell wie möglich durch die abgelegenen Gassen von Florenz. Oft trieben sich hier dunkle Gestalten herum, denen ich besser nicht begegnen wollte. Es nieselte leicht, und eisige Winde strömten durch die Gassen.
Zitternd schlang ich die Arme um mich selbst und versteckte den Brief unter meinem Mantel. Ich wollte nicht, dass der edle Umschlag vom Regen beschädigt wurde. Traurig starrte ich in den grauen Himmel und wünschte, die Sonne würde die grauen Wolken durchbrechen. Ich vermisste die Wärme der Sonnenstrahlen auf meiner Haut, den Geruch von frischen Blumen salzigem Meer. Der Geruch von Abfall stömte in meine Nase, als wollte er mich herausfordern. Ängstlich beschleunigte ich meine Schritte, der Sturm schien immer näher zu kommen. Der Wind peitschte mir das lange Haar um das kindliche Gesicht. Die Kälte schmerzte an jeder Stelle, an der sie mich berührte. Sogar meine Füße fühlten sich taub an, obwohl ich dicke Stiefel angezogen hatte. Ich bog in eine windgeschützte, enge Gasse ein. Eigentlich war es nur eine Lücke zwischen zwei Häusern, man konnte nicht einmal zu zweit nebeneinander durchgehen. Bald würde ich Zuhause sein.
Die schmale Gasse endete in einem Hinterhof. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, die im Regen eine schlammige Farbe hatte. Ich überquerte den Hof und trat vor unser Haus. Es war ein altes Gebäude aus Stein. Die Wände waren mit Efeu bewachsen, die Tür und die Fensterrahmen bestanden aus morschem Holz. Ich klopfte kräftig dagegen. Zwei Sekunden später öffnete sich die Tür. "Jane!", rief Alec begeistert und umarmte mich. Ich sah, wie er von meinen kalten ,durchgeweichten Kleidern eine Gänsehaut bekam.
"Du bist ja ganz nass.", murmelte er. "Zum Glück hat dich der Sturm nicht erwischt."
"Natürlich bin ich nass! Hast du heute schonmal raus geschaut? Der Sturm ist ziemlich nah."
Wie zur Bestätigung hörte ich oben das Klappern der Fenster, als sie versuchten, gegen den Wind stand zuhalten.
Ich zog meinen Mantel aus und hing ihn an einen selbst geschnitzten Haken aus Holz. Er würde von selber trocknen müssen, denn mit dem Feuer wollte ich mich lieber selbst wärmen. Ich folgte Alec in die vertraute, kleine Kammer, die uns als Wohnzimmer diente. Ein Sessel stand in der Ecke, gegenüber von einem Kamin aus Backstein. Alec hatte das Feuer bereits angezündet, und eine angenehme Wärme umgab mich.
Erst, als ich meine Hände an das wärmende Feuer halten wollte, merkte ich, dass ich noch etwas in der Hand hielt.
"Wo ist Mutter?", fragte ich.
"Sie schläft. Warum?" Er sah mich fragend an, dann wanderte sein Blick zu dem Umschlag in meiner Hand. Ein erschrockener Ausdruck huschte über sein Gesicht, und er fragte nicht mehr.
Ich wärmte mir die Hände. Eigentlich wollte ich unsere Mutter wirklich nicht aufwecken, aber mein Herz hämmerte drängend gegen meine Brust..Die Minuten verstrichen langsam, während ich auf eine Bewegung oder ein Husten aus dem Nebenzimmer lauschte. Nichts. Wenn ich mich anstrengt, hörte ich sogar ihren gleichmäßigen Atem.
"Lass sie sich ein bisschen ausruhen, sie hat den ganzen Morgen gehustet."
Alec legte mir den Arm um die Schultern und ich lehnte mich an meinen geliebten Bruder.
"Ich bin nur so aufgeregt.", flüsterte ich und deutete auf den Umschlag, der auf dem Sessel lag.
Es herrschte wieder Schweigen, bis ich plötzlich aus dem Nachbarzimmer ein Husten vernahm. Ich zuckte zusammen. Alec wollte schon aufstehen, aber ich hielt ihn zurück.
"Ich bringe ihr den Brief.", sagte ich leise. Meine Stimme war plötzlich heiser. "In Ordnung. Ich mache ihr Tee.", antwortete Alec und drückte mir aufmunternd die Hand.
Ich schnappte mir den Brief und ging leise durch den Flur.
"Mutter? Es ist ein Brief angekommen."
"Komm rein, Jane!", ertönte eine raue Stimme und ich drückte die Klinke herunter. Ich schwitzte, plötzlich war mir heiß-"Der Brief ist von deinem Heiler."
Meine Mutter lächelte mir aufmunternd zu, dabei hätte sie doch Angst haben müssen. Ich hatte Angst, während sie mit den dünnen Fingern das Papier aufriss und den Brief auffaltete. Ihr Lächeln erstarb. Sie starrte ungläubig auf das Blatt, bis ich es ihr am liebsten aus der schwachen Hand gerissen hätte und selbst einen Blick auf die Wörter erhascht hatte. "Es tut mir leid.", krächzte sie, den Blick immer noch auf das Blatt gerichtet. "Ich werde eurem Vater folgen. In kurzer Zeit."
Mein Vater war tot, an starkem Fieber gestorben. Und meine Mutter würde ihm folgen. Ich begriff ihre Worte und hielt mir die Ohren zu, aber ich hatte es schon gehört. Nein, nein, nein. Ich und Alec, wir waren doch erst 12. Warum war das Leben so gemein zu mir. Ich spürte den Wind gegen die Fenster prallen, und wünschte, ich könnte mich draußen in den Sturm stellen und weit weit weg fliegen, wo mich die Armut und das Leid und der Schmerz des Lebens nicht mehr erreichen konnten.

Die Geschichte von Jane und AlecWo Geschichten leben. Entdecke jetzt