Eisige Welt

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Ich riss meiner Mutter den Brief aus der Hand und steckte ihn mir in die Jackentasche. "Nein.", sagte ich entschlossen. "Jane, Liebes.", meine Mutter nahm mich schützend in die Arme. "Du hast noch so viel vor dir. Du kannst noch so viel lernen. Aber ich..kann meinem Schicksal
nicht entkommen."
"Schicksal? Kann ein Schicksal denn so ungerecht sein?", murmelte ich, während ich mich umdrehte, um nach Alec zu sehen. Er balancierte ein Tablett mit einer Tasse Tee und einem Teller mit Keksen durch den Flur. Er lächelte, als er das Tablett abstellte. Doch als sich unsere
Blicke begegneten, erstarb sein Lächeln. "Keine guten Neuigkeiten?", ich weiß, dass er es locker klingen lassen will, aber seine Stimme zitterte und Tränen standen ihm bereits in den Augen. "Nein.", ich biss mir auf die Lippe. Alec sah ungläubig zu unserer Mutter, die schwach in
ihrem Bett lag. Die braunen Haare bedeckten ihre schweißbedeckte Stirn, immer wieder hustete sie oder zuckte vor Schmerz zusammen. Ihre sonst so schönen braunen Augen waren rot gerändert und sahen glasig aus. Alec wwendet sich wieder mir zu. "Sie wird doch nicht sterben,
oder?", flüsterte er so leise, dass sie es nicht hören konnte. Ich wollte etwas sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Die verzweifelten Tränen, die sich in den letzten Tagen angestaut hatten, flossen über und liefen mir über die Wangen. Während Mutter von einem weiteren
Hustenkrampf geschüttelt wurde, holte Alec erschrocken nach Luft. Dann wandt er sich dem Tablett mit dem Tee zu. Ich wusste, dass Arbeit seine Art war, sich von Trauer abzulenken. Früher, als unser Vater gestorben war, hatte er oft gearbeitet. Er hatte über den kalten Boden gefegt, die
Spinnennetze an der Decke entfernt und andere Hausarbeiten erlebt, während ich in meiner Trauer zu nichts fähig gewesen war. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens gewesen, und der vertraute Schmerz tat unbeschreiblich weh. Noch einmal zu erleben, wie ein Elternteil von mir starb,
das war das Schrecklichste, was ich mir vorstellen konnte. Ich würde ein Waisenkind sein. Ohne Geld, Essen oder Unterkunft. Meine Mutter durfte jetzt nicht sterben. Besorgt beugte ich mich über sie. Ihr Atem ging schnell, manchmal zuckte sie vor Schmerz zusammen und biss sich auf die Lippe. Wahrscheinlich, um einen Schrei zurückzuhalten.
"Mutter...", ich wollte sie dazu überreden, zu kämpfen. Für uns. Aber es war bereits sicher, dass sie den Kampf verlieren würde.
"Jane, Alec, hört mir zu. Geht zu Cole, meinem Bruder. Früher waren wir einmal dort, aber ihr wart noch sehr klein. Er wird euch helfen. Er wohnt am anderen Ende der Stadt in einem.."
ihre Worte gingen in einem Husten unter.
"Wo wohnt er? Mutter!", schrie Alec verzweifelt.
"I-ich hab euch lieb.", ein raues Flüstern, kaum zu hören, als hätte es der stürmige Wind zu uns getragen. Dann war es still. Ganz langsam beugte ich mich über die Frau in dem alten, klapprigen Bett. Ich lauschte auf die Schläge eines Herzens. Nichts. Sie zitterte nicht, sie spürte keinen Schmerz mehr. Weil sie tot war.
In diesem Moment veränderte sich meine Welt. Das, was einmal Glück für mich gewesen war, das war jetzt purer Schmerz. Es tat schrecklich weh, noch mehr, als bei meinem Vater. Und wenn der Schmerz einmal nachließ, spürte ich eine Leere, die noch schrecklicher war.
Eine Leere, wo früher einmal Liebe gewesen war. Denn jetzt hatte ich niemanden mehr. Niemanden außer Alec.
Ich drehte mich zu ihm um. Er war ganz bleich, die Augen groß und starr auf den toten Körper unserer Mutter gerichtet. Eine Träne rollte über seine Wange.
"Sie ist tot.", sagte ich.

Die Geschichte von Jane und AlecWo Geschichten leben. Entdecke jetzt