Blutende Blätter

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Wir waren zu fünft. Ein kleines Lagerfeuer, ein staubiger Grillplatz mitten im dunklen Wald. Der Mond war so gut wie ausgefüllt, hier und da konnte man gar Sterne ausmachen, schwach am Himmel schimmernd. Die Hitze war abgeklungen, ein sanfter Wind brachte angenehm warme Luft mit sich. Aillyn trug dennoch eine Jacke. Sie saß, die Knie umschlungen und vor sich hinstarrend, auf einem der Baumstämme, welche wir noch vor ein paar Stunden um das Feuer herum trapiert hatten. Devin schlummerte zu Boden gesunken neben ihr und schnarchte sogar ein wenig vor sich hin. Er war amüsanterweise am schnellsten weggewesen. Jake und Willy bewarfen sich laut kichernd mit Bierflaschen, die keinen der beiden auch nur ansatzweise trafen. Ich hingegen genoss die Melodien eines Songs, welchen ich nicht kannte, wiegte mich in seltsam anmutenden Bewegungen hin und her. Mir sah keiner zu. Also war es mir mehr als egal, wie ich wirken mochte. Im Gegenteil. Meine Gedanken hämmerten zwar gegen meine Schläfe mit einer Kraft, wie schon lange nicht mehr, doch machte es das wundervolle Gefühl der Schwerelosigkeit tief in meinem Inneren wieder wett. Ich fühlte mich frei. Frei und unabhängig, losgelöst von düsteren Gedanken und meinem eigenen Ich.

Gut, mir war kotzschlecht. Aber es war eine Ausnahme. Eine wundervolle Ausnahme. 

Grillen zirpten, Mücken schwirrten umher und ließen Devin schwach danach klatschen und einer schwächelnden Marionette ähneln. Willy lag lachend und vor sich brabbelnd auf dem Boden. Ich bemerkte erst ein paar Sekunden später, dass Jake sich von ihm getrennt hatte und nun direkt vor mir stand, breit grinsend und mit diesem glückseligen Ausdruck in den Augen. Auch er wirkte frei und unabhängig und ganz er selbst, wenn auch ein wenig ... belämmert. Ich musste unwillkürlich ebenfalls grinsen. Zwar drehte sich alles in meinem Hirn, aber die Ruhe und die Einsamkeit hier draußen gefielen mir immer besser.

Ich hatte erst Bedenken gehabt. Nicht wegen den Gefahren, nein. Höchstens ein klein wenig vielleicht. Aber - vor allem weil ich hier nicht mehr so schnell wegkommen konnte, so ohne die anderen. Die Zivilisation war einen guten halbstündigen Fußmarsch durch mir mehr als unbekanntes Gebiet entfernt und bis auf Willy kannte ich keinen der vier. Ich hatte sie erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Wie hätte ich also sichergehen können, dass dies hier nicht in einer völligen Katastrophe enden würde?
Aber ich hatte mich geirrt. Es war umwerfend. Halt, nein. Besser - es war grandios. Ich war glücklich, ja, für diesen einen Augenblick war ich wirklich glücklich. Nichts anderes zählte, nur dieser Moment, nur dieser eine hier, von Natur und raschelnden Blättern und sich im Wind wiegenden Ästen umgeben.
Der nächste komische Song begann und Jake schien noch breiter zu grinsen. Er war mir eigentlich zu unintelligent und wahrlich nicht sympathisch genug, aber der jetzigen Mara war er mehr als recht. Kerl war Kerl. Und prinzipiell schieden schon Aillyn und Willy aus. Willy, weil Willy eben nicht nur Willy, sondern zudem auch noch stockschwul war. Und Devin, weil Devin völlig weggetreten im Staub bereits vor sich hinsabberte.
Also blieb Jake. Jake. Unauffällig, aber nett. Nett, aber seltsam. Seltsam, aber witzig. Jake eben.
Und weil Jake eben Jake war, empfand ich es als gar nicht so schrecklich, auf einmal mit der Wange an seinem staubigen und feuchten T-Shirt zu kleben, während seine Hände eindeutig zu weit gingen, um noch als gesittet gelten zu können. Aber heute war es egal. Jetzt, in diesem Moment war es egal. Ich wollte leben. Nur leben. 

Wir tanzten. Das torkelnde Mädchen und der vor sich hinkicherte Junge. Es war okay, mehr als okay. Und ich wette, würde ich nun auf seine Füße kotzen müssen, wäre es nicht weiter tragisch. Vermutlich würde er sich nicht einmal mehr daran erinnern. Ich grinste noch breiter und schloss die Augen.

Und in diesem Moment fiel es mir auf. Das, was in so vielen Büchern beschrieben stand, kurz bevor sich ein Vampirzombiefreakgemisch sich dem hilflosen Menschlein von hinten näherte - die absolute Stille. So wirklich, wirklich, wirklich still. Die Grillen waren verstummt, kein Wind rührte mehr in den Ästen und Blättern der Baumkronen. Einzig allein das Feuer knisterte, der Song lief, Devin schnarchte, Willy kicherte und Jake knetete meinen Hintern. Während sich mein Hirn schon auf einen wundervollen Werwolf freute, hörte ich es rascheln. Nicht die Äste weit oben. Nein. ich hörte Äste knacken, schnelles, gehetzt wirkendes Rascheln am Boden, etwas, was sich über modernde Blätter hinweg zu schleichen schien und Büsche, welche sich einem Wesen beugten, immer schneller und schneller.Und urplötzlich war da wieder nichts. Wieder alles still. Wieder dieses mulmige Gefühl in meiner Magengegend. 
Längst hatte ich meinen Blick den Geräuschen rechts von Jake und mir zugewandt. Jake summte, laut und unmusikalisch und wären Feuer und Willy und Devin und Musik und Jake nicht gewesen - mein Herz hätte gehämmert. Mein Magen sich zusammengezogen. Irgendetwas stimmte nicht.
Eine Stimme in mir flüsterte mir etwas zu, kaum verständlich und viel zu leise, als dass ich es hätte verstehen können. 
Dann war da ein Schrei. Ein leiser, weit entfernt klingender. Mich überfiel eine Gänsehaut.
Langsam hob ich meinen Blick und sah Jake an. Seine Augen waren geschlossen, immer noch grinste er breit, seine Hände in voller Aktion. "Jake, hast du das gehört?"
Er runzelte die Stirn, hob seine Lider, träge und langsam. "Hm?"
Ich schüttelte den Kopf. Ich war hysterisch. Paranoid. Hatte zu viel gelesen. Ganz einfach. Sicherlich war es irgendein Tier gewesen. Kamen nicht irgendwie Wölfe wieder zurück, hierher oder so?
Ich atmete tief durch, schloss erneut meine Augen und versuchte zu lächeln, die Unbeschwertheit zurück zu zwingen. Mein Hirn war viel zu langsam, um anständig zu arbeiten. Wie wahrscheinlich war es dann wohl, dass ich mir solches nur eingebildet hatte? Nun, das ungute Gefühl blieb, aber ... 
Die Melodie eines nächsten Songs sprang an und diesmal kannte ich ihn. Schief summte ich mit und ließ mich von Jake erneut hin- und herwiegen. 
Wieder Rascheln. Lauter. Viel lauter. Um einiges lauter. Meine Lider flogen auf, in mir krampfte sich etwas schmerzhaft zusammen, mein Kopf schien immer härter zu pochen. Die Stimme meines Inneren flüsterte lauter, doch noch immer konnte ich sie nicht vernehmen.
Meine Augen suchten fieberhaft den Waldrand ab, die dort wartende Dunkelheit. Ich meinte, schnelle Schritte und fliegende Atemzüge hören zu können.
Der zweite Schrei war länger. Gewaltiger. Atemraubender. Alles in mir gefror. Er klang so nah, schien wiederzuhallen, schien sich immer und immer weiter zu wiederholen.
Und wieder brach er ruckartig ab.
Jake hatte mich von sich gestoßen, nur mühsam konnte ich mich aufrecht auf den Beinen halten, während sein Grinsen nun seine Lippen verlassen hatte, er erschrocken zur Grenze zwischen Staub und Wald starrte. Er hatte es also auch gehört. Selbst Willys Lachen war verklungen. Er hatte sich halb aufgesetzt, Aillyn ebenfalls. Beide starrten sie zur gleichen Stelle.
"Was war das?", flüstere Aillyn.
Niemand antwortete.
Die Stille danach schien schwerer zu lasten, als die Schreie selbst, sie schien unheimlicher zu sein, als die unbekannte Finsternis hinter der Wand von Bäumen und Büschen und Gräsern.
Das Rascheln, das Tappen und die Schritte schienen immer lauter und lauter zu werden, immer näher und näher zu kommen. Jake wich zurück, Aillyn schrie auf, stieß das Radio um, Willy keuchte. Wieder ein Schrei, noch näher, meine Gliedmaßen schienen wie gelähmt, mein ganzer Körper war erstarrt. Ich konnte nur auf das Dickicht starren und diesmal, ja diesmal schrie mich die Stimme meines Inneren an.
LAUF.
Ein Wesen, ein lebendiges, sehr, sehr lebendiges Wesen rauschte direkt vor uns durchs Unterholz, kam immer näher und näher und näher, ich schien etwas ausmachen, etwas erahnen zu können und dann ...
Rannte ein weißer Fleck kreischend und wimmernd voller Panik und Angst auf uns zu.
Erst nach einigen, schier unendlich lang andauernden Augenblicken voller hämmernden Herzens und unbändiger Angst konnte ich den weißen Fleck als ein winziges Mädchen ausmachen. Sie ... war voller Blut. Und rannte direkt auf mich zu. Als sie uns sah, blieb sie taumelnd stehen, keuchte und keuchte, starrte mich an, blickte hektisch und angsterfüllt hinter sich.
Mir wurde bewusst, dass da noch etwas draußen sein musste. Hinter ihr. 
Etwas, was das Mädchen mehr als fürchtete.
Keine zwei Meter trennten mich von ihr, als sie sich wieder in Bewegung setzte, den Blick immer noch auf mich gerichtet. "Es tut mir leid", flüsterte sie, kaum hörbar, mit bleichen Lippen, ihr Gesicht vor Entsetzen und Schmerzen entstellt.
Ich konnte mich nicht bewegen, als sie zusammenbrach. Hörte nur Aillyn anfangen zu weinen und Jake aufgeregt fluchen, aber meine Augen - sie ruhten immer noch auf dem Waldrand.
Ich weiß, ich hätte auf die Stimme tief in meinem Inneren hören sollen. Ich hätte weglaufen sollen. Das Mädchen linksliegen lassen, das sich langsam auf dem Boden ausbreitende Blut ignorieren.
Und dennoch hätte mich nichts und wieder nichts auf die nächste Sekunde vorbereiten können. Als mein Herz so laut hämmerte, dass es zu zerspringen schien. Als mir bewusst wurde, dass es das wohl war. Dass es zuende war, bevor es überhaupt begonnen hatte. Dass das hier ... Wirklichkeit schien.
Alles verzog sich, schien Stunden zu dauern, alles tat weh, alles in mir schrie nach Flucht.
Eine dunkle Gestalt, größer, so viel größer und breiter als das Mädchen, brach durch das Dickicht. Langsam, ohne Eile. Blieb stehen. Starrte uns an. Starrte mich an. Tief in den Schatten verborgen und doch konnte ich alles sehen. Die Fetzen der dunklen Kleidung. Die hagere Person. Den Bart. Seine verzogenen Lippen, die hochgezogenen Mundwinkel. Die stahlblauen Augen. Die Axt, über und über mit Blut besudelt hing sie schlaff in seiner Hand.
Langsam, wie in Zeitlupe drehte ich mich um, suchte den leeren Blick des leblosen Mädchens, sah das ganze Blut. Meine eigene Angst, solch schreckliche Angst lähmte mich, hinderte mich, auch nur irgendetwas tun zu wollen.
Als ich mich wieder zu der Gestalt umdrehte, stand er direkt vor mir.
Ich wich zurück, stieß gegen den Mädchenkörper, taumelte, starrte in diese stahlblauen, aufgerissenen Augen, erkannte jedes rote, zerplatzte Gefäß in ihnen.
Seine Hand schnappte nach meinem Gesicht, ich konnte nicht mehr denken, starrte nur in diese Augen, bemerkte seinen Gestank, das Blut auf seinen Kleidern, der Speichel, der aus seinem Mund lief und seinen Bart glänzen ließ.
Er gluckste, lachte, schien die Zähne zu blecken.
"Sie ... wimmert nicht", krächzte er leise, so, dass nur ich es hören konnte. "Angst, Angst. Ich rieche dich. Und doch ... mutig." Er lachte, Speichel flog mir ins Gesicht, mein Kiefer schmerzte. Es tat weh und doch tat es das nicht. "Schön, so schön." Er keuchte auf, ihm schien eine Idee gekommen zu sein. Ich sah es förmlich in seinen Augen. "Mädchen. Du bist die nächste."
Seine Lippen trafen auf meine, hart, kalt, Salz und Metall, mir wurde schlecht. Alles drehte sich.
Er ließ mich los. Stieß mich weg. Ich fiel. Starrte ihm nach, seinem Lachen, wie er wegging, die Axt hinter sich durch den Staub herziehend.



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⏰ Letzte Aktualisierung: Sep 08, 2015 ⏰

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