Kapitel 1

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»Guten Morgen London!« , schrie mein Radiowecker voller Begeisterung und entriss mich meinen Träumen.
Seufzend tastete ich in der Dunkelheit die Snooze Taste ab und schaltete dann das Licht meiner Nachttischlampe an.
Ich setzte mich im Bett auf, strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hüpfte mehr oder weniger aus dem Bett. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit in meiner Küche ankam, fand ich dann auch endlich meine nerdige Brille auf dem Küchentisch. Ohne sie war ich, um es einfach auszudrücken, blind. Zumindest morgens. Den restlichen Tag ging es, Gott sei Dank, auch ohne sie.
Ich nahm mir eine Porzellanschüssel und das Müsli aus dem Schrank, einen Löffel aus der Schublade und setzte mich mit einem meiner Lernordner an den Tisch. Während ich meine Notizen studierte und versuchte nebenbei zu essen, ging ich meine Aufgaben für den heute anstehenden Tag nochmal durch: in die Bibliothek fahren, lernen und dann, wenn ich alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe, mit Marie essen gehen.
Marie. Die kleine, blonde, nette und witzige Marie mit den herrlich grünen Augen, war seit Beginn der Grundschulzeit meine beste Freundin. Wir gingen zusammen durch dick und dünn. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Bis zur Oberstufe hatte sich das aber alles wieder eingerenkt, als wir älter wurden, uns in die Länge streckten und den Jungs gefallen wollten. Meist taten wir das aber nicht. Wir waren eher die Außenseiter in unserem Jahrgang, wurden klischeehaft von den Schönheiten der Klasse bei jeder Gelegenheit diskriminiert und ausgelacht. Es waren ein paar miese Jahre, aber das war alles vergessen als wir beide vorne auf der Bühne standen und unser Abschlusszeugnis in den Händen hielten und den anderen dabei zusehen durften, wie sie die Klasse nochmal wiederholen konnten. Karma, sage ich da nur.
Als ich mit dem Frühstück fertig war, ging ich ins Bad um mich fertig zu machen. Ich putzte mir die Zähne, zog mir einen Pulli und eine helle Jeans an, kämmte mir meine braunblond, gelockten Haare und band sie zu einem Dutt zusammen, trug ein wenig Mascara und einen roten Lippenstift auf und setzte mir wieder meine klobige Brille auf die Nase.
Bereit für den Tag, schlüpfte ich in meine Boots, zwengte mich in meinen Trenchcoat, schnappte mir einen Regenschirm und meine Tasche und verließ die Wohnung.
Wie erwartet regnete es wie aus Eimern. Ich spannte also den Regenschirm auf und spazierte los zur Bibliothek. Unterwegs begegnete ich den unterschiedlichsten Menschen. Und das schöne an London war ja, dass diese sogar an schlechten Tagen rausgingen. Manche fuhren sogar mit dem Fahrrad. Das fand ich sehr beeindruckend, da ich es persönlich bevorzugte entweder zu Fuß oder mit Bus und Bahn mich fortzubewegen. Ich war außerdem total unsportlich. Deswegen kam das Fahrrad für mich sowieso nicht in Frage.
An der Bibliothek angekommen, setzte ich mich in die hinterste Ecke des Gebäudes. Dort, am Fenster, war eine Ecke mit roten Sofas eingerichtet worden. Ausgestattet mit vielen Kissen, war es einfach der perfekte Platz zum entspannen, und um ehrlich zu sein, zog ich es meiner Wohnung vor.
Ich liebte es einfach inmitten von Büchern zu sein. Die verschiedenen Gerüche von neuen und alten Seiten, sowie die vielen Farben der Buchrücken in den riesen Regalen, beruhigten mich ungemein.
Ich setzte mich also auf eins der roten Sofas und kramte meine Notizen heraus, sowie „Hamlet". Ich las die letzten paar Seiten des Buches und versuchte es zu interpretieren. Was schwieriger war, als ich dachte.
Nach etwa einer Stunde legte ich es vor mir auf den Tisch, lehnte mich zurück und betrachtete die mit Stuck verzierte Decke. Lange hing ich meinen Gedanken nach. Ich dachte an meine Familie im schönen California und an die Tatsache, dass ich die Kälte hier viel mehr genoss, als dort schwitzend in der Sonne zu liegen. Denn seit ich denken kann, lebten wir dort.
Mein Vater war kein Liebhaber von Umzügen gewesen. Alles in Kartons zu verpacken, dann von einem Punkt zum anderen zu schleppen, um es dort wieder auszupacken, allein der Gedanke war ihm unsympathisch.
»Ich habe einfach zu viele Sachen. Das würde ja Jahre dauern«, versicherte er uns jedes Mal. Und ich konnte ihn mittlerweile auch echt verstehen. Allein meine Sachen einzupacken und herzubringen hat einen riesen Aufwand gemacht.
Meine Mutter war mit allem einverstanden gewesen, solange es in die Sonne ging. Es musste nicht mal sonderlich warm sein, aber mehr als zwei Mal regnen durfte es in der Woche nicht.
Luke, mein kleiner Bruder, und ich waren immer unkompliziert gewesen, was das Thema betraf. Wir wären beide zu gerne mal umgezogen, denn wenn man alle Seiten von California kennt, kann es echt langweilig werden. Zumindest empfanden wir beide es als langweilig. Als Sherlock und Watson, waren wir beide halt etwas spannenderes gewohnt, als nur ein zerkratztes Auto nach Fingerabdrücken zu untersuchen.
Ich vermisste Luke sehr. Wir waren wie Ying und Yang oder Pech und Schwefel. Niemand verstand mich besser als er. Nicht mal Marie.
Und eigentlich kam ich auch erst durch ihn auf die Idee Literatur zu studieren. Er war der Meinung, ich hätte es im Blut Bücher zu schreiben und Texte zu verstehen. Und ihm zu liebe, tat ich es dann auch. Ach ja..
Ich erinnerte mich gerne an die Zeit zurück, als wir noch kleiner waren und uns immer auf den staubigen Dachboden unseres Hauses verkrochen hatten, um uns dort gegenseitig unsere Lieblingsbücher vorzulesen. Diese bestanden eigentlich nur aus Sherlock Holmes und anderen Krimis. Und oft sind wir dann auch oben eingeschlafen, sodass unsere Eltern immer nach uns suchen mussten. Aber alles halb so wild.
Immer noch in meinen Gedanken versunken, merkte ich gar nicht wie schnell die Zeit verging.
Das Herunterfallen von mindestens zwanzig Büchern ließ mich dann hochfahren. Ich schaute auf die Uhr und stieß ein leises »Mist!« hervor, als ich realisierte, dass ich zu spät zu meiner Vorlesung kommen würde. Also sprang ich auf, räumte meine Sachen zusammen und rannte Richtung Ausgang. Ich erreichte ihn aber nicht, denn plötzlich lief jemand gegen mich, sodass ich zurück fiel.
»Kannst du nicht aufpassen?!«, stieß ich wütend hervor und hielt mir den Kopf.
»Tut mir leid, war nicht meine Absicht«, bekam ich nur als Antwort ehe der Unbekannte zwischen den Regalen verschwand.
Schnell stand ich auf, hiefte mir meine Tasche auf die Schulter und verließ die Bibliothek ohne weiter darüber nachzudenken.
Auf dem Weg zur Vorlesung war vom Regen der letzten zwei Tage nichts mehr zu sehen. Die Sonne schien und die Luft war angenehm warm.
Typisches Londoner Wetter eben.

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