Neun Tage waren seit dem Telefongespräch mit meiner Schwester vergangen. Heute war Freitag. Heute ging mein Flug. Mein Flug ins neue Leben. Gott, hörte sich das käsig an!
In den letzten neun Tagen war viel passiert. Nach und nach wurde mein Zimmer und das Badezimmer immer leerer, da ich all meine Sachen zusammenpacken musste. Ich musste meinen Nebenjob im Café schmeißen und mich von Schule und Tanzkurs abmelden. Letzteres war mir viel schwerer gefallen. Und extra wegen mir gab es eine richtige Abschiedsparty mit allem drum und dran nach meiner letzten Tanzstunde. Ich muss zugeben, ich musste etwas weinen, weil alle so süß und nett zu mir waren - und ich sie nicht mehr wiedersehen würde.
Die Schule war da schon etwas anders gewesen. Es gab keine Abschiedsparty, nur einen Blumenstrauß und eine kleine Schachtel Pralinen von allen. Was aber auch etwas war. Schließlich waren sie nicht dazu verpflichtet gewesen. Der Abschied von meinen Klassenkameraden fiel mir trotzdem leichter. Es war nicht so, dass ich meine Klasse nicht mochte oder keine Freunde gehabt hatte, es waren alle sehr nett zu mir gewesen, aber trotzdem konnte ich mich in dieser Klasse nie gut mit einbringen. Was mich allerdings nicht groß störte.
So stand ich also an diesem Freitag im Flur meines Geburtshauses, hinter mein Gepäck aufgetürmt, und begutachtete mich im Spiegel. Da ich etwas recherchiert hatte, wusste ich, dass das Wetter in London gerade ziemlich warm und schwül war, deshalb trug ich ein hübsches, rot-weiß gestreiftes Sommerkleid mit braunem, geflochtenem Ledergürtel und schlichten Ballerinas. Hübsch, aber eben nicht besonders. Mochte sein, dass ich in ungefähr 26 Stunden ein komplett anderes Leben hatte, aber das änderte nichts an meiner Person. Ich würde immer die gleiche humorvolle, sarkastische und fröhliche Elena Breston sein, die ich immer schon war. Und die sich nie besonders herausputzte.
Ein lautes Hupen schreckte mich aus meinen Gedanken. Mein Taxi war da. Schnell steckt ich mir noch meine dicken, honigblonden Locken hoch und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Ein schlankes, relativ kleines, ja fast schon zierliches Mädchen blickte mich aus warmen, schokoladenbraunen Augen mit kleinen goldbraunen Sprenkeln nervös an. Es ging los. Ich würde mein Geburtshaus verlassen, meine vertraute Umgebung, mein vertrautes Leben und den Sprung ins kalte Wasser wagen. Anpannung und Aufregung zugleich fielen über meinen Körper, als ich rasch meine kleine rotbraune Ledertasche schulterte und mich, mitsamt meinen beiden Koffern, nach draußen schob. Mit einem letzten Blick auf das Haus, in dem ich seit meiner Geburt lebte, schloss ich die Haustür ab und hievte mein Gepäck, mit etwas Hilfe vom Taxifahrer, in das Taxi.
Die Fahrt zum Flughafen rauschte an mir vorbei wie ein Zug. Ich hatte meine Ohrstöpsel in den Ohren und starrte nur gedankenverloren aus dem Fenster. Wie würde London wohl sein? Und die Elegance Academy? Und wie würde das Zusammenleben mit Onkel Mason und Tante Judith werden? Die beiden sollten mich, nachdem ich in London gelandet war, abholen. Mir bangte etwas vor der Fahrt mit den beiden. Wie schon erwähnt, sie waren etwas speziell.
Auch den Rest der Reise erlebte ich nur wie durch einen Schleier. Fast schon mechanisch bezahlte ich für die Fahrt, schleppte mein Gepäck zum Gepäckband und machte mich anschließend auf den Weg zu meinem Flieger. Alles verlief reibungslos, was fast schon gruselig war und meine Anspannung nur noch mehr steigerte. Der Flug dauerte 24 Stunden, plus einmal Umssteigen. Allerdings gab es eine Verzögerung, weswegen ich schließlich erst nach 25 Stunden in London ankam.
Auf dem Weg zum Gepäckband fühlte ich mich etwas verloren in der Menschenmasse. Alles was ich wollte, war mein Gepäck holen, die Fahrt mit Tante und Onkel schnell hinter mich bringen und dann eine lange Dusche nehmen, um den Reisetag von mir runterzuwaschen. Es kam alles ganz anders.
Nachdem ich mein Gepäck endlich wiederhatte brauchte ich eine halbe Ewigkeit, um die Ausgänge zu finden. Doch als ich schließlich vor dem riesigen Flughafen stand, war niemand zu sehen, der mich abholen sollte. Ich wusste, wie Onkel Mason und Tante Judith aussahen, sie waren nicht zu übersehen, aber ich konnte sie nirgends entdecken. In mir ballte sich eine Mischung aus Panik, Wut und Hilflosigkeit an, als ich mich verzweifelt umsah, in der Hoffnung, meine schrägen Verwandten zu entdecken. Nichts. "Oh super", murmelte ich, während ich mich auf eine kleine Bank niederließ, "wahrscheinlich haben sie das Datum verwechselt. Oder die Uhrzeit. Oder sie haben das riesige Schild übersehen, auf dem stand, dass mein Flieger eine Stunde Verspätung hat." Meine Laune hatte ihren Tiefpunkt erreicht.
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