Cruel Fairytale

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Das Märchen beginnt mit einem kleinen Mädchen von nicht ganz 12 Jahren. Ein unglückliches, verlorenes, einsames Mädchen, von den Eltern verstossen, von sich selbst gehasst. In ihrem kurzen Leben hatte sie viel Schmerz erfahren müssen, viele Schandtaten über sich ergehen lassen. In einer monderhellten Nacht irrte sie ziellos durch die Gassen einer Stadt, deren Gestank sich tief in ihre Lungen bohrte. Wie von Geisterhand geführt steuerte sie auf den schmalen Pier zu, welcher sich über die Ostseite des verdreckten See's erstreckte.

Müde liess sie sich nieder, liess die Beine baumeln und malte mit ihnen sanfte Kreise in die dunkle Wasseroberfläche. Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während sie an ihr missratenes Leben dachte. Gab es denn keinen Platz für ein Mädchen wie sie in dieser Welt? Sollte sie dazu verdammt sein, auf der Strasse die dunklen Seiten des Lebens kennenzulernen?

Während sie tief in ihren Gedanken festsass, fing das Wasser um ihre Füsse an, sich zurückzuziehen. Ein tiefes Loch bildete sich, wie das Maul eines hungrigen Tieres. Das Mädchen spürte die Leere an ihren Füssen. Erstaunt beugte sie sich vor und starrte über ihre Knie. Doch so sehr sie sich anstrengte, in dem schwarzen Loch war kaum etwas zu erkennen. Doch ihr war es, als würde sie eine leise Stimme rufen hören. Eine Stimme, deren wunderschöner Klang so anziehend war, dass das Mädchen die Augen schloss und sich sanft hin und her wog.

So achtete sie nicht auf die schwarzen, mit grässlichen Saugnäpfen übersäten Fangarme, die aus dem Loch hervorkrochen und sich gemächlich um ihre Beine schmiegten. Die eiskalte, nasse Berührung liess das Mädchen kurz aufschreien, doch es war zu spät. Das Wesen hatte sie bereits zu sich geholt.


Augenzeugen berichteten, das Mädchen sei mit geschlossenen Augen freiwillig ins Wasser gesprungen und nicht wieder aufgetaucht. Nach ihr gesucht wurde nie. Das Mädchen ging vergessen, niemand würde sich je an sie erinnern.


Jahre vergingen, in denen immer wieder Kinder im See verschwanden und keines kehrte je wieder zurück. Bis zu jenem düsteren Abend, als Amale, wieder ein junges Mädchen, den See aufsuchte und ihren kleinen Bruder an der Hand den Pier entlang führte. Sie erreichten die Stelle, an der das Mädchen damals verschwunden war.

Amale hörte es zuerst. Eine leise, schluchzende Stimme, die nach ihnen rief. Doch da war noch etwas. Die weinende Stimme verschmolz urplötzlich mit wilden, fröhlichen Klängen. Der kleine Junge zog an der Hand seiner Schwester und gluckste aufgeregt. "Ein Jahrmarkt, Amale, da unten ist ein Jahrmarkt! Hörst du die Musik? Lass uns hingehen!" Amale riss die Augen vor Schreck weit auf, als sich hinter dem Rücken ihres Bruders schwarze Fangarme emporhoben und ihren kleinen Bruder in die Tiefe rissen. Schreiend rannte sie nach Hause um Hilfe zu holen. Doch die Retter fanden weder seine Leiche, noch ein schwarzes Wesen.

Später erzählte Amale, sie habe eine schemenhafte, kindliche Gestalt gesehen, über dem Wasser schwebend, die knochigen, beinahe schwarzen Arme nach ihrem Bruder ausgestreckt...
Vielleicht waren es auch schwarze Flügel oder Fangarme, ihre Erinnerungen verschwanden in einem Nebel aus Angst und Verzweiflung.
Natürlich glaubte ihr keiner, jeder dachte, Amale stünde unter Schock.

Verwirrt und enttäuscht begab Amale sich eines Nachts selber an den See, da sie anfing, an ihren eigenen Worten zu zweifeln. Sie liess ihren Blick lange über die dunkle, klare Wasseroberfläche schweifen, doch nichts war zu sehen. Missmutig setzte Amale sich an den Pier und umschlang ihre Beine. In ihrer Verzweiflung schrie sie mit Tränen in den Augen in die Nacht hinein: „Wo bist du?! Wieso hast du meinen Bruder geholt? Bring ihn mir zurück... Bitte bring ihn mir zurück..."

Amale schloss die Augen und weinte.

Als sie sie wieder öffnete, sah sie es. Das Mädchen schwebte nur wenige Meter vor Amale's Augen, ihre Füsse berührten knapp die Wasseroberfläche. Mit schwarzen, leblosen Augen starrte sie ins Nichts. Amale war wie gebannt und die Worte kamen nur zitternd über ihre Lippen. „Wer... wer bist du? Hast DU meinen Bruder...?"

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des kleinen Mädchens. Ihre Stimme war brüchig, kaum lauter als ein Flüstern. „Ich habe sie alle. Sie sind alle bei mir, hier unten. Ich hatte nie Freunde, doch jetzt habe ich viele. Komm zu uns, lass uns zusammen spielen..."

Amale erstarrte, als sich das Gesicht des Mädchens zu einer schrecklichen Fratze verzog. Das Mädchen liess ein hohes Kichern erklingen und richtete ihre knochigen, seltsam langen Arme auf Amale.

„LASS UNS SPIELEN!"


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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 05, 2015 ⏰

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