Im Nachhinein wundert es mich ehrlich gesagt nicht, dass Signorina Viola unsere Stadt besuchte. Es wurde nunmal kalt in Palermo, warum auch immer, und da muss man in solchen Situationen halt weg. Da kann man halt nichts machen. Das klingt jetzt sicherlich viel einfacher, als es für Viola war. Irgendwo tat sie mir dann doch leid. Alles zurücklassen. Von Heut' auf Morgen. Im Endeffekt konnte sie ja dann doch nichts dafür, oder?
Um den genauen Sachverhalt zu ergründen sollten wir etwas an der Zeit spielen und uns in einer grauen Vorzeit wiederfinden. Genau genommen ist es gar nicht so lange her, wie es jetzt klingt. Vielleicht 70, 80 Jahre.
Damals wurde es schonmal kalt. Alleine der Gedanke an die Finsternis und die - Dunkelheit. Dieses Misstrauen auf den Straßen, diese leeren Blicke und die dicken Mäntel. So - Unnahbar. So - Unfassbar. Diese Kälte. Dieses Grauen. Dieses - Splittern.
Die Menschen liefen auf den Straßen und sie fragten sich nicht warum. Sie akzeptierten das. Denn irgendwie waren sie selbst daran schuld, dass es so kalt wurde. Es wurde so kalt damals und jeder einzelne war schuld daran. Wir sind nämlich nicht nur dafür verantwortlich was wir tun, sondern auch dafür, was wir nicht verhindern.
Das Interessante damals war, dass es ja irgendwie ein Klassensystem in der Kälte gab. Anstatt zusammen zu halten, gab es eben die, die die Wärme mehr verdient hatten als die anderen. Komisch. Die konnten sich nicht helfen, diese Menschen. Die waren auf sich allein gestellt. Und obwohl oder - gerade wegen der Kälte fingen die Menschen zu vergessen wer sie nämlich waren; Nicht besser und nicht schlechter, sondern einfach „Mensch."
Viola war doch auch nur ein Mensch.
Ein Mensch mit der falschen Herkunft?
Einige Menschen wollten wieder die Wärme. Sie haben sich dafür eingesetzt, für die Wärme. Für die Sonnenstrahlen, die lächelnden Gesichter und die offenen Herzen. Aber keiner kam so weit die Kälte zu vertreiben. Keiner schaffte es. Damals.
Natürlich kam irgendwie die Wärme. Irgendwann kamen dann auch alle wieder, die es schafften von der Kälte zu fliehen. Viele kamen wieder, viele blieben. Die Erinnerung, ja glaube ich, die hat sie alle geschafft, die war zu ergreifend.
Kälte ist in uns allen. bei einigen mehr, bei einigen weniger. Wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht einnimmt. In Palermo hat sie schon um sich gegriffen. Es passiert wieder. Und wieder. Die Menschen verschließen sich, sie kümmern sich nur um ihr eigenes Wohl. Wenn ich daran denke, dann zerbricht mein Herz. Am liebsten würde ich sie von mir abschneiden.
Aber auch hier war niemand sicher. Es begann. Es begann in unseren Köpfen. Wir alle lächelten Viola an. Wir lächelten alle und zeigten ihr nur, wie gerne wir sie doch mochten. Natürlich haben wir uns mit ihr unterhalten und ihr immer unsere Hilfe angeboten. Doch gehandelt haben wir nicht. Niemand hat gehandelt. Nicht die Menschen, nicht meine Eltern und nicht einmal ich. Wir haben ihr unsere Freundschaft ausgesprochen, doch es hat ihr nichts gebracht.
Die Menschen vergessen sich um die anderen zu kümmern, weil die andern immer einem das Gefühl geben, dass ihre Sachen niemanden was angeht. Menschen werden auf voller Straße entführt und verprügelt, weil viele Menschen einfach nicht handeln können und wollen. Es könnte ja sein. Das ist die neue Ausrede. Wenn jemand bemerken würde, wie leicht es sein könnte, wieder eine Gruppe auszuschließen unter diesem Vorsatz. Ich will gar nicht daran denken.
Auch ich war schuld daran, dass irgendwann Viola weg war. ich hoffe, dass sie die Kälte überlebt hat, dass sie ihre Wärme gefunden hat. Ich hoffe es so sehr für sie.
Aber noch ist diese Kälte nicht vorbei, es ist erst der Anfang. Das kann man vergleichen wie - wie Nebel. Nebel kommt auch einfach. Den sieht man auch nicht, wenn er beginnt. Man sieht ihn erst, wenn man ihn nicht mehr aufhalten kann und man durch die Dunkelheit rennt und nach Antworten und Namen ruft.
Ich fürchte um mein Leben, um Viola, um meine Mitmenschen. Ich habe Angst davor, dass es wieder die splitternden Nächte geben wird. Wie sich plötzlich Türen schließen und nie wieder aufgemacht werden.
Jeder kann was verändern. Kälte kommt nicht einfach so, sie kommt langsam. Seht auf die Straßen, Menschen, seht die Kälte. Seht sie und fühlt sie. Lasst euch nicht einnehmen, schottet euch davon ab. Strahlt die Wärme aus. Seid die Wärme.
Menschen, ihr seid unsere Rettung. Haltet diese Kälte auf, haltet diese Spaltung auf. Seht was passiert. Ihr, ich, wir. Nur wir können sie aufhalten. Wir sind jetzt, es kommt nur auf uns an.
Und so wurde es Winter in Venedig. Während die ersten Schneeflocken auf ihrem Weg nach unten tanzen und die Blätter langsam von den Bäumen verschwinden, sich die Menschen um ihr kleines Feuerlein setzen und die Türen und Fenster verließen, bemerken sie doch alle nicht, wie wenig sie noch sind. Wie wenig sie doch sehen. Wie wenig sie doch fühlen.

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Winter in Venedig
Short StoryKälte ist in uns allen. Bei einigen mehr, bei einigen weniger. Wir müssen aufpassen, dass sie uns nicht einnimmt. In Palermo hat sie schon um sich gegriffen. Es passiert wieder. Und wieder. Die Menschen verschließen sich, sie kümmern sich nur um ihr...