Sie lag auf ihrem Himmelbett, starrte die Decke an. Die weißen Tücher hingen wie die Segel eines Schiffes neben ihr herab. Die weiche Matratze war ihr schon immer etwas zu weich gewesen. Um sie herum waren Schränke voller schöner Klamotten, die ihr immer etwas zu schön gewesen waren und moderne Kunst hing an den Wänden, die ihr immer etwas zu modern gewesen war. In ihren Bücherregalen, welche sich in der östlichen Hälfte ihres Zimmers bis zur Decke streckten, versteckten sich zwischen Lern- und Sachbüchern ihre Lieblingsgeschichten und Abenteuer, in welchen sie sich nur zu gerne verlor. Ihr Vater sagte immer, dass sie sich mit diesem „Haufen nichtsnutziger Fantasie" den klaren Blick auf die Welt und das Leben verschleierte und erwischte sie nur äußerst ungern dabei, wenn sie ihre Nase in eines dieser „Zeitverschwendungen" steckte. Doch das hielt sie nicht auf. Sie glaubte nicht, die Bücher seien Zeitverschwendungen, nichts weiter. Warum werden dann so viele gedruckt? Und noch mehr? Und was war daran bloß Zeitverschwendendes, wenn man zwischen bedruckten Seiten die herrlichsten Erfahrungen machen konnte und an den spannendsten Abenteuern teilhaben durfte?
Als sie sich so die weiße, unversehrte Decke ansah, wurde ihr langweilig. Nicht auszuhalten. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, sie könne durch dieses Stück Gemäuer hindurch in den Himmel sehen, die kleine Nase in das Sonnenlicht stecken, die dicken, lustigen Wolken beobachten, wie sie langsam vorbeizogen und ihre Gestalt dabei stetig veränderten, den Bussarden dabei zusehen, wie sie hoch in die Lüfte flogen und sich in fremden Winden tragen ließen, bis sie dann im Sturzflug auf die Erde sausten und wieder hochflogen, vergnügt und frei.
Vergnügt und frei. So fühlte sie sich nicht. Nein, so fühlte sie sich ganz und gar nicht. Sie fühlte sich leer, verschwendet.
Ihre schweifenden Gedanken wurden von einem leisen Miauen unterbrochen. Ein paar Sekunden brauchte sie, um wieder in die Realität zurückzufinden. Dann setzte sie sie sich auf und sprang von dem Bett. Ihre nackten Füßchen setzten sicher auf dem kalten Steinboden auf. Sie lief zu der schweren, runden Holztür und öffnete sie. „Rufus!" Der graue Kater strich um ihre Beine, schnurrte, und lief dann schnurstracks auf das Bett zu, um sich in die warme Kuhle zu setzen, in der Alice vorher gelegen hatte. „Aber Rufus, wenn Vater das rauskriegt, wird er sehr böse mit uns sein." Er mochte es gar nicht, wenn sie den Kater ins Haus ließ. Er sagte, er würde Gestank und Unordnung mit sich bringen, und dass er von Flöhen verseucht sei. Doch Rufus fand bald das Kellerfenster, das sich nie richtig schließen ließ, und das man von außen problemlos mit der Schnauze aufdrücken konnte. Und Alice machte das auch nichts aus. Sie liebte den Kater. Er war ihr einziger Freund.
Sie lebte mit ihrem Vater und einigen Bediensteten auf einem großen Anwesen, weit weg von anderen Kindern und Spielplätzen und Süßwarengeschäften. Manchmal vergaß sie komplett, was für eine Welt draußen herum lag. Nein, 'vergessen' war wohl das falsche Wort dafür. Wenn etwas vergisst, muss man vorher davon gewusst haben. Sie wusste gar nichts über das Leben, außerhalb des Hauses. Ihr Vater verließ es auch nur selten. Meist schloss er sich in seinem Büro ein und man hörte Stunden nichts von ihm. Das war okay, Alice hatte gelernt, sich selbst zu beschäftigen. Sie spielte dem Postboten Streiche, las sich in Abenteuer, erforschte unbekannte Zimmer, verwinkelte Dachböden, kalte Keller. Das Haus war voll von Ecken, die sie noch nicht kannte. Das Leben spielte sich nämlich bloß im vorderen Teil des Anwesens ab. Dabei gab es noch viele Treppen, die zu vielen Fluren mit vielen Zimmern führten und sie luden herrlich dazu ein, herumzuschnüffeln. "Komm Alice,", schienen sie ihr zu flüstern, "Komm her, hier her, ich habe große Schätze für dich, komm nur, sieh nach, es ist wunderbar, glaube mir".
DU LIEST GERADE
Ausbruch
FantasyDer Junge legte den Kopf schief. "Du willst lernen, was wahre Freiheit ist? Du möchtest sie spüren, sie schmecken, sie riechen, du möchtest wissen das du frei bist? Nun, ich auch, so lass uns in die Welt ziehen." Und sie folgte ihm.