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Die berauschenden letzten Takte. Und nochmal gaben wir alles, Tim und ich. Ich schaffte es sogar, das letzte, langgezogene „Yeaaaaah" ins Mikro zu growlen. So eine gute Show hatten wir bei diesem Stück noch nie geschafft. Als ich meinen Kopf wieder nach oben bewegte und ich die letzten Gittarenklänge genoss, indem ich dazu tanzte, sah ich Tim, der einfach nur dastand und mich ansah.
Und dann, als ich gerade meinen Arm um seine Schultern legen wollte, damit wir uns zusammen verbeugen konnten, schlang Tim seinen Arm um meinen Nacken und zog mich fast schon brutal zu sich. Ich dachte keine Millisekunde nach, als seine Lippen die meine trafen und der Kuss sich direkt in einen Zungenkuss verwandelte.
Ich dachte nicht darüber nach, wie lange ich schon niemanden mehr geküsst hatte.
Ich dachte nicht darüber nach, welche Gerüchte aufkommen würden.
Ich dachte nicht darüber nach, dass seine Brille ein bisschen störte.

Das einzige, an das ich dachte, war, wie wundervoll sich seine Lippen auf meinen anfühlten.
Wie wundervoll sich seine Hände an meinem Rücken und Nacken anfühlten.
Der Kuss dauerte lange, aber er war noch immer viel zu kurz. Als Tim schließlich von mir abließ, fühlte ich eine gähnende Leere auf meinen Lippen.
Wir verbeugten uns und ich sah leicht grinsend zu, wie unsere Fans ausrasteten. Noch immer lag sein Arm um meiner Schulter und wir standen einfach da. Dann fing Basti hinter uns an zu schreien: „HOMOSEXUALITÄT! HOMOSEXUALTITÄT!" Alle Fans stimmten begeistert mit ein.

Nach dieser Aktion kamen nur noch ein paar Songs, aber keiner konnte Trostpreis toppen. Nach dem Auftritt setzten sie sich alle zusammen in den Backstagebereich, um sich zu betrinken und das gelungene Konzert gebührend zu feiern. Timi und ich setzten uns auf ein Sofa und Sudden, Vortex und Basti auf das andere, Größere. Vortex füllte unsere Gläser.
„Auf einen gelungenen Auftritt! Prost!"
Wir stießen an. Und so wurden aus einem Bier 5 und aus 2 Shots um die zehn. Timi rückte in der Zeit immer näher zu mir, bis er sich fast an mich rankuschelte. Ich war so zu, dass ich nichts dagegen sagte, sondern nur einen Arm um ihn legte. Plötzlich lallte Sudden:
„Yo, Timi, was machse da an Luggas?"
Timi zuckte nur mit den Schultern und grinste. Ich sah ihn von oben an und lächelte. Er sah extrem niedlich aus, mit seinem schiefen Lächeln.
Basti packte aus seiner Hosentasche ein paar Päckchen mit weißem Pulver.
„Jemand Bock auf Koksen?"
Sudden, Vortex und Timi stimmten sofort begeistert zu, während ich mich wie immer zurückhielt.
„Lukas? Du auch?", fragte Basti mich. Der Typ konnte es aber auch einfach nicht lassen.
„Nein. Wie oft noch?", gab ich ein bisschen angepisst zurück. Schließlich hatte ich ihm das schon so oft gesagt, dass ich nicht wollte.
„Ist ja gut, du Diva. War ja nur 'ne Frage. Spaßverderber.", gab Basti zurück.
Sauer sah ich ihn an. Ich wusste auch nicht so genau, warum ich so wütend war. Normalerweise machte mich Alkohol nur anhänglich, aber nicht wütend. Heute war das irgendwie anders.
„Na gut, wenn das so ist. Dann kann ich ja auch gleich gehen, dann bin ich eurem Spaß nicht mehr im Wege."
Ich stand abrupt auf, sodass Timi fast hinfiel und rauschte hinaus.
„Lukas!", hörte ich noch jemanden rufen, doch ich reagierte nicht darauf. Ich lief immer weiter und weiter, bis ich an einer Wiese ankam, auf die ich mich legte. Mir war es egal, dass die Wiese vom nächtlichen Tau schon feucht war und meine Kleidung durchnässte. Das Adrenalin und die Wut wärmten mich von Innen heraus. Tief sog ich die Nachtluft ein. Die kühle Luft strömte durch meine Nase und beruhigte mich ein wenig. Plötzlich wurde mir sehr schnell sehr kalt. Meine Jacke war noch bei den anderen, doch da würde ich ganz sicher nicht wieder hingehen. Ich schloss die Augen. Es war alles zu viel. Zu viele Eindrücke, zu viel Alkohol, zu viel Lärm, zu viele Fans. Von allem so viel, doch nur eins fehlte.
„Tim...", flüsterte ich leise in die Nacht. Kleine Dampfschwaden kamen aus meinem Mund, als ich seinen Namen sagte und trugen den ungehörten Klang fort.
Wie sehr ich ihn vermisste, wenn er nicht da war. Selbst wenn er da war, vermisste ich ihn, da wir meist nur im Beisein anderer zusammen waren und nie alleine. Alleine war er so anders. So viel liebevoller und sanfter.
Was philosophierte mein Gehirn sich denn zusammen, wenn ich so betrunken bin? Das war ja kaum auszuhalten. Ich öffnete meine Augen wieder. Über mir war ein klarer Himmel, der Mond schien auf mein Gesicht hinab und ich konnte gefühlt jeden Stern am Nachthimmel erkennen. Es war absolut still. Und so blieb ich dort im Gras liegen und dachte nach. Ich achtete nicht mehr auf mein Umfeld und so bemerkte ich auch nicht, wie sich von hinten jemand näherte und sich neben mich legte. Erst als ich ein leises „Lukas?" vernahm, bemerkte ich diesen Jemand. Langsam drehte ich meinen Kopf nach links und sah Timi neben mir, der mich besorgt ansah. Er sollte mich nicht so ansehen. Ich fühlte mich dann direkt wie ein kleiner, verletzlicher Welpe, um den sich jemand kümmern musste. Timi hatte doch schon seinen Heisenberg, da brauchte er nicht noch einen Zweiten.
„Ja?", antwortete ich ebenso leise.
„Was war denn plötzlich los? Warum bist du abgehauen?"
„Ich... Ich... Ach verdammt. Es war alles zu viel. Zu viel von allem. Mein Fass war bis zum Rand gefüllt, jeder hätte es zum Überlaufen gebracht, aber Basti hat es getroffen. Und dann auch noch deine Nähe..."
Ich stoppte. Das war jetzt eine Information zu viel.
„Wenn ich dir nicht so auf die Pelle rücken soll, musst du das nur sagen, Lukas. Ich will nicht, dass es dir nicht gut geht."
Nein, bitte, ich will ,dass er bei mir bleibt, niemals wieder geht. Ich erwiderte nichts mehr.
„Das deute ich jetzt einfach mal als Zeichen, dass ich mich fernhalten soll." Timi stand auf und sah mich von oben an, irgendwie sah er enttäuscht aus. Ich stand ebenfalls auf, nahm seine Hände und sah ihn einfach an. Er sah von unten verunsichert zu mir auf. Seine Hände waren eiskalt.
„Tim...", flüsterte ich erneut, doch diesmal hörte es jemand. Dann umarmte ich ihn einfach, vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und sog seinen Geruch ein. Es tat so gut. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Er strich mir beruhigend über meinen Rücken.
„Pschscht, alles ist gut, Lukas."
Nein, nichts war gut, aber das konnte ich ihm nicht sagen.
„So, und jetzt sagst du mir, was los ist. Keine Diskussionen. Eher lasse ich dich nicht gehen."
Gar keine schlechte Idee. Vielleicht sollte ich einfach gar nichts mehr sagen. Dann würden wir hier für immer bleiben. Was für eine dumme Idee. Also gut. Da musste ich durch.
Ich ließ ihn los und setzte mich auf den Boden und schlang meine Arme um meine Knie. Timi setzte sich gegenüber von mir im Schneidersitz hin. Ich räusperte mich und begann:
„Also. Ich... ich hab' mich verliebt. Aber ich weiß ganz genau, dass diese Person mich nicht liebt. Wir sind gut befreundet, aber mehr ist da nicht für diese Person. Mir bedeutet diese Person aber alles, ich würde mein Leben für diese Person aufgeben."
Ich sah, während ich sprach, die ganze Zeit nach unten und bemerkte, dass mal wieder eine Träne von meinem Gesicht tropfte. Timi beugte sich zu mir hinüber und strich mit seinem Daumen meine Träne weg. Ich sah ihn an. Seine Hand blieb auf meiner Wange liegen.
„Wie könnte dich eine Frau nicht lieben?"
Ich lächelte traurig. Wenn der wüsste... Jetzt musste ich die Bombe platzen lassen.
„Wenn's eine Frau wäre, klar."
Tim sah mich verdutzt an.
„Wie jetzt? Du bist schwul?"
„Bi", antwortete ich ihm wahrheitsgemäß.
„Und wer ist der Glückliche?"
„Äh... Tut mir leid, Tim, aber das kann ich dir nicht sagen."
„Jemand, den ich kenne?"
„Ja."
„Ist es Sudden?"
Ich konnte nicht anders und fing an zu lachen.
„Um Gottes Willen, nein."
Er grinste mich an.
„Na siehste, du lachst schon wieder."
Ich stand auf und reichte ihm meine Hand, damit er sich hochziehen konnte.
„Komm ,wir gehen zurück zu den Anderen und ich entschuldige mich bei Basti. Ach und...", ich zögerte kurz.
„Bitte sag' den anderen nichts. Das soll vorerst mein Geheimnis bleiben."
Noch immer saß er unten, hatte meine Hand bereits genommen, doch machte keine Anstalten sich hochzuziehen. Ich sah ihn abwartend an, bis er schließlich versuchte, sich an meinem Arm hochzuziehen. Ich zog ihn mit Schwung hoch, nur leider hatten wir zusammen ein bisschen zu viel Schwung, sodass wir gemeinsam nach hinten stolperten und wir schließlich hinfielen und aufeinander landeten. Ich stöhnte kurz auf, er war schwerer, als ich gedacht hatte. Er grinste mich an.
„Hups", murmelte er leise.
Ich sah ihm in die Augen, bis mein Blick langsam runter auf seine Lippen sank. So nah, nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Er hörte auf zu lächeln. Sanft schlang ich meine Arme um ihn. Jetzt oder nie, Lukas, jetzt oder nie, sagte ich mir. Meine Hand wanderte hoch zu seinem Hinterkopf und zog ihn schließlich zu mir hinunter. Seine Lippen trafen auf meine. In mir drin explodierte alles. Tausende von vorher unterdrückten Schmetterlingen wurden freigelassen und alles kribbelte. Seine Lippen waren so sanft, so weich und passten sich meinen perfekt an. Sanft strichen meine Hände über seinen Hinterkopf und seine Hände stützten sich auf meinen Schultern ab.
Viel zu schnell löste er sich.
Ich lächelte ihn liebevoll an.
„Sowas könnte ich gerne öfter haben", sagte ich zu ihm.
„Achja? Von mir aus gerne", grinste er.
Diesmal kam der Kuss von seiner Seite aus. Ich war der glücklichste Mensch der Welt.
„Ich liebe dich, Tim", brummte ich danach.
„Und ich dich erst, Lukas."

Fin

Nachts verändert sich alles.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt