****** Viel Spaß! *******
Lächelnd saß ich im Schneidersitz auf meinem Bett und wartete auf Lukas. Er sollte mich abholen, damit wir für sein Stromausfall-Album Trostpreis aufnehmen konnten. Ich wusste nicht genau, was er da mit mir vorhatte, er hatte wahrscheinlich so einiges verändert, aber ich ließ mich einfach mal überraschen. Ich sah auf die Uhr. 5 vor 3. In 5 Minuten sollte er kommen und wie wir unseren Lukas kannten, würde er wie immer pünktlich kommen. Und tatsächlich, um 3 Minuten vor 3 klingelte es unten an der Tür. Grinsend stand ich auf, ging nach unten und machte die Tür auf. „Timi!", rief er und öffnete lachend seine Arme.
„Lukas!", schrie ich theatralisch zurück und sprang in seine Arme. Glücklich schlang ich meine Arme um ihn. Wir hatten uns viel zu lange nicht mehr gesehen. Er strich mir über meinen Kopf und ließ mich los.
„Komm Kleiner, wir müssen los.", sagte er.
„Kleiner?", beschwerte ich mich. „So klein bin ich nun auch nicht. Nur, weil du so ein Riese bist."
Er erwiderte nichts, ging zu seinem Auto, machte die Beifahrertür auf und sagte mit einer eleganten Verbeugung: „Ladies first."
Nun denn, wenn er das so wollte, dann würde ich eben mitspielen. Ich streckte meine Brust raus, bildete mit meinen Lippen einen Kussmund, stemmte eine Hand in meine Hüfte und ging übertrieben mit dem Arsch wackelnd auf das Auto zu.
„Ey, das ist Dragqueen Timi, der vor'm Schminkspiegel steht!", rappte er los.
„Ich nehm' schwarz für die Augen, aber pink für die Zähne", rappte ich weiter, während ich einstieg. Er ging um das Auto herum und stieg ebenfalls ein.
„Anschnallen nicht vergessen."
„Ja, Mama", antwortete ich und verdrehte die Augen.
Er fuhr los und das Radio schaltete sich automatisch an. WDR 4. WDR4? Sein Ernst?
Als er meinen Blick bemerkte, erwiderte er nur: „Na und? Klassik beruhigt mich."
Ich zog eine Augenbraue hoch und sagte nichts mehr. Wenn ich lange Strecken fahre, dann schaue ich immer lieber aus dem Fenster, anstatt mich mit anderen Anwesenden zu unterhalten und Lukas wusste das auch. Wir mussten etwa eine Stunde zum Studio fahren. Mit der klassischen Musik im Hintergrund lehnte ich meinen Kopf ans Fenster. Normalerweise werde ich in solchen Situationen immer melancholisch, heute war ich aber zu glücklich darüber, dass ich Lukas wiedersehen durfte. Mein Puls beruhigte sich langsam und ich selbst wurde ebenfalls ruhiger. Jetzt verstand ich Lukas. So sagte ich nach etwa einer halben Stunde: „Jetzt verstehe ich dich. Die Musik beruhigt einen tatsächlich."
Überrascht, dass ich etwas gesagt hatte, sah er mich an.
„Was? Ja. Äh, ja."
Ich musste grinsen. Man hörte mich nur extrem selten auf Autofahrten sprechen, es sei denn, ich hatte was intus. Die restliche Autofahrt verbrachten wir schweigend. Dann waren wir angekommen. Lukas und ich stiegen aus und gingen rein. Niemand da, nur wir beiden. Lukas richtete im kleinen Aufnahmeraum alles her und ich sah ihm, an der Wand gelehnt, zu. Er stellte zwei Stühle direkt gegenüber, dazwischen die beiden Mikrofone. Er selbst nahm sich nur eine Gitarre.
„Nun denn, wollen wir anfangen, Tim?"
Ich brummte zustimmend und setzte mich auf einen der beiden Stühle und stellte das Mikro noch in die richtige Höhe. Lukas nahm gegenüber von mir Platz und stimmte die Gitarre. Interessiert sah ich seinen Fingern zu, wie sie flink über die Saiten flogen. Was er wohl sonst noch so mit seinen Fingern anstellen konnte? Da waren sie schon wieder, diese Gedanken. Ich schüttelte meinen Kopf, ich benahm mich wie ein verliebter Teenager. Immer öfter hatte ich in letzter Zeit diese Gedanken und sie wollten nicht verschwinden. Zum Glück sah Lukas diese abrupte Kopfbewegung nicht, da er noch immer seine ganze Konzentration der Gitarre widmete. Irgendwann war er fertig und ich riss meinen Blick von seinen Händen los. Er hatte wunderschöne Hände.
Schon wieder diese Gedanken. Inzwischen waren sie zur Normalität geworden, sobald ich an Lukas dachte, was ich in letzter Zeit immer öfter tat.
„Hallo? Tim?"
„Was?", fragte ich verwirrt.
„Ich hab' dich schon drei Mal gefragt, ob wir anfangen können."
„Oh. Sorry. Ja, ja, meinetwegen können wir anfangen."
Er runzelte die Stirn. „Na gut, aber danach sagst du mir, was mit dir los ist."
Oh nein, ganz sicher nicht. Ich würde ihm garantiert nicht unter die Nase reiben, dass ich gerade Anstalten machte, mich in ihn zu verlieben, in meinen besten Freund! Ich nickte nur kurz. Er lächelte kurz aufmunternd, beugte sich vor und schloss die Augen. Er begann zu pfeifen und ich erkannte die Töne von Trostpreis. Nachdem er fertig war, fing er nicht an zu singen, sondern fing an im Achteltakt die Grundtöne auf der Gitarre zu spielen, bis er im letzten Takt eine kleine Leiter rauf und runter spielte. Er lächelte und sagte leise: „Ein bisschen Schummeln muss sein."
Dann spielte er erneut die Grundtöne und fing an zu rappen. Ich sah ihn an. Verdammt, er war so wunderschön. Er sah mich ebenfalls an. Gott, diese nervigen Mikros. Sie verhinderten, dass ich seine wundervollen Augen sehen konnte. Ich schob mein Mikro weg. Verwirrt sah er mich an, doch er hörte nicht auf zu rappen. Ich wollte ihn sehen, ihn berühren. Gleich war sein Part vorbei und der Refrain würde kommen. Ich stellte mich schon darauf ein, doch statt dem gewohnten Refrain sang er plötzlich auf Englisch. Ich rückte näher an ihn heran. Ich musste auf ihn wirken, wie ein verrückter Stalker oder so was, so nah, wie ich ihm kam. Plötzlich brach er ab.
„Was soll das, Tim?"
Ich sah ihn an, konnte mich nicht konzentrieren. Er war so wunderschön, wenn er Musik machte. Er war auch generell wunderschön.
„Ich, äh. Ähm, ich... du... äh."
Er sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Ich schüttelte meinen Kopf und rückte schnell zurück und nahm mir wieder mein Mikro.
„Egal. Lass uns nochmal anfangen."
„Nein, Tim, du sagst mir jetzt sofort, was-"
„ES IST NICHTS, OKAY?", schrie ich ihn an. Wow, Applaus, Tim. Sehr glaubwürdig.
Erschrocken zuckte Lukas zurück.
„Okay. Wir versuchen es nochmal. Aber danach lass ich dich nicht eher gehen, bis du mir nicht gesagt hast, was los ist."
„Wie gesagt, es ist nichts los. Bin nur gestresst in letzter Zeit." Lüge. Ich machte gar nichts in letzter Zeit.
„Natürlich", grinste Lukas. Er wusste genau, dass ich so rein gar nichts tat. Aber wir fingen nochmal an und diesmal lief alles gut und ich machte keine spontanen, dummen Aktionen.
Nachdem wir fertig waren, setzte sich Lukas auf das Sofa und klopfte auffordend neben sich. Immerhin musste ich ihm nicht in die Augen gucken. Ich setzte mich und zog die Schultern nach vorne. Was sollte ich denn jetzt machen?
„Nun?", fragte Lukas.
„Was denn?" Ich tat auf ahnungslos.
„Tu' nicht so scheinheilig, Timi."
Verdammt. Scheiß drauf, ich schwieg einfach. Wir saßen lange so dort. Diese verdammte Stille war extrem unangenehm und ich wurde nervös. Ich bewegte meine Finger in einem schnellen Takt und auch mein linkes Bein wackelte mit. Ich kannte den psychologischen Trick, den Lukas anwendete. Wie oft hatten es Therapeuten bei mir versucht, wenn ich ihnen nichts erzählte. So lange schweigen, bis ich selber anfing zu erzählen. Funktioniert hatte es bei mir nie, da ich die Stille mehr mochte, als wenn die Therapeuten einem die Welt schönreden wollten. Eine Zeit lang waren die Stille und die Einsamkeit meine besten Freunde und ich verbrachte wochenlang Tag und Nacht in meinem dunklen Zimmer. Zum Glück hatte mich die Musik damals da rausgeholt, sonst wäre ich wohl nicht mehr hier.
„Tim."
Langsam sah ich hoch und Lukas mitten ins Gesicht.
„Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst. Alles. Du bist mein bester Freund, verfickte Scheiße nochmal. Ich würde dich für nichts verurteilen, gar nichts. Selbst wenn du irgendwen ermordet hättest, ich würde mit die zusammen die scheiß Leiche im Wald vergraben, okay?"
Ich schluckte. Sein bester Freund... Ich wäre so gerne mehr für ihn.
Er fuhr fort: „Und wenn du mir das nicht erzählen willst, dann wird das einen Grund haben. Bin ich Schuld? Vertraust du mir nicht genug? Bin ich nicht genug?"
Seine Stimme brach und mein Herz gleich mit.
„Ich will dich nicht verlieren, Lukas", flüsterte ich leise. Meine Unterlippe bebte. So kannte ich ihn gar nicht. Der sonst immer gut gelaunte, humorvolle Lukas, mein Fels in der Brandung, der Grund, warum ich wieder lächeln konnte. Ich wusste, dass ich ihm jetzt alles sagen musste, wenn ich ihn nicht verlieren wollte.
„Okay, Lukas. Hör' mir zu. Ich weiß nicht, wie ich das jetzt genau ausdrücken soll, also bitte ich dich, dass du mich nicht unterbrichst, ja?"
Ich sah ihn nicken.
„Nun gut. Von Anfang an. Wie du weißt, habe ich Depressionen, Borderline und Essstörungen. Den Grund dafür weißt du nicht. Nun ja, damals ist jemand gestorben, den ich liebte. Ich war 12. Es war eine Person, die mir sehr nah stand. Um genau zu sein, war es mein bester Freund. Er war der einzige Mensch, bei dem ich mich wirklich sicher fühlte, dem ich alles anvertrauen konnte und einfach die wichtigste Person meines Lebens. Er ist bei einem Unfall umgekommen, trug aber keine Schuld. Dieser scheiß LKW-Fahrer hat ihn einfach überfahren und... ach verdammt." Tränen liefen über meine Wangen, noch immer nahm mich sein Tod mit. Lukas wartete, bis ich mich beruhigt hatte und sah mich ermutigend an.
„Nach seiner Beerdigung war ich nur noch in meinem Zimmer. Ich habe nichts mehr gegessen, nichts mehr getrunken und war ständig unter Drogen. Das ging so weiter, bis ich 13 war, dann hatte meine Mutter die Schnauze voll, was verständlich war. Sie schleppte mich von einem Therapeuten zum nächsten, die Therapeuten verzweifelten an mir und steckten mich in eine Klinik. Nichts von alldem half. Und so gaben mich nach und nach alle auf. Erst die Therapeuten, dann meine Freunde, schließlich auch meine Mutter und meine Familie. Und ich fiel immer tiefer in mein eigenes Loch hinein, bis sich eines Tages alles änderte. Ich traf auf Marcel, wir machten Musik zusammen und ich wurde wieder glücklicher. Irgendwann traf ich auch auf Basti und Sudden und wir gründeten Trailerpark. Mein Leben wurde wieder besser, ich lachte wieder, wenn auch nur mit einem Mundwinkel, denn es fehlte noch ein Stück bis zum vollkommenen Glück. Weißt du, welches Stück das war? Du, Lukas. Alleine du. Als ich dich damals entdeckte, hast du mich direkt fasziniert und als wir dann auch noch Kontakt hatten und du zu Trailerpark gekommen bist, schien meine Welt wieder komplett zu sein und das Loch zugeschaufelt. Ja, so schien es, denn ich Vollidiot mache es schon wieder auf, indem ich das dümmste zulasse, was passieren könnte. Ich habe Gefühle zugelassen. Nicht für irgendeine Frau, nein, das wäre ja schön. Nein, ich habe Gefühle für meinen besten Freund entwickelt. Für dich, Lukas. Ich habe mich in dich verliebt und kann nichts dagegen tun. Ich stelle mir immer diese unrealistischen Szenen vor, weißt du? Wir beide als glückliches Paar, meinen Sohn gemeinsam aufziehend. Diese Vorstellungen machen mich unglaublich fertig. Was will ein perfekter Mensch wie du denn bitte von einem schwulen, drogenabhängigen, depressiven, dummen Jungen wie mir? Und ich habe Angst, solche Angst, dass du mich jetzt auch verlässt und ich zum zweiten Mal meinen besten Freund verliere."
Vorsichtig sah ich nach rechts. Lukas starrte mich völlig sprachlos mit Tränen in den Augen an.
Er räusperte sich und sagte: „Tim, ich... Oh Gott, ich hatte ja keine Ahnung-"
Ich unterbrach ihn: „Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Ich werde Trailerpark dann verlassen, du bringst der Band weitaus mehr als ich. Du würdest nie wieder etwas von mir hören und-"
Diesmal war er es, der mich unterbrach, allerdings nicht durch Worte. Er hatte seinen Finger auf meine Lippen gelegt und flüsterte leise: „Sag jetzt nichts."
Dann kam er mir vorsichtig näher und legte seine Lippen auf meine. In mir drin explodierte ein Meer aus Schmetterlingen und eben diese Schmetterlinge fluteten all die negativen Gedanken weg und ließen nur noch Platz für das Hier und Jetzt.
Wie gut sich seine Lippen anfühlten.
Wie sein Bart kitzelte.
Wie sehr ich mir das schon gewünscht hatte.
Wie flauschig seine Haare waren, als ich mich mit meinen Händen in ihnen festkrallte.
Und ich war glücklich.Glücklicher, als jemals zuvor und das sollte sich nie wieder ändern.
DU LIEST GERADE
Silver Medal.
RandomKleiner Timigatoah-OS. Was könnte wohl bei der Aufnahme von Silver Medal passiert sein?