Kapitel 3

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20. Juni. 1954

Es war eine Woche auf der Erde vergangen, als Alan und Christopher aufwachten. Man konnte nicht erkennen ob es Tag oder Nacht war, denn die Sonne schien genau so hell als sie schien als sie eingeschlafen waren. Warscheinlich gibt es hier oben kein Tag oder Nacht, dachte Alan. Christopher, der auf Alans Brust geschlafen hatte, setzte sich auf und streckte sich. „Morgen", sagte er lächelnd. „Gut geschlafen?" „Sehr gut.", antwortete Alan ebenfalls lächelnd. Und es stimmte. Er hatte ewig keine Nacht mehr ohne Albträume oder Sorgen und Ängste durchlebt. Er setzte sich ebenso auf fragte: „Und was jetzt?".
Christopher sah plötzlich ernst aus und schaute Alan vorsichtig in die Augen.
„Willst du deine Beerdigung sehen?", fragte er behutsam.
„Mir hat damals sehr geholfen. Die Leute zu sehen die mir etwas bedeutet haben."
Alan durchfuhr trotz den Sonnenstrahlen ein kalter Schauer.
„Ich weiß nicht", sagte Alan zögernd. Er hatte Angst Menschen zu sehen, die um ihn weinten. Aber er wollte auch Joan wiedersehen. Und seine Eltern.
„In Ordnung", seufzte er schließlich.
„Okay. Du kannst jederzeit gehen, das weißt du.", sagte Christopher.
Er stand auf und half Alan hoch. „Komm", sagte er und führte Alan über das Gelände, bis sie zu einer weiteren Tür kamen. „Bereit?", fragte er Alan, der nickte. Sie gingen durch die Tür und fanden sich auf einem Friedhofsgelände wieder. Sie gingen zu einer kleinen Gruppe von Leuten, die um ein Grab versammelt standen. Alan löste seine Hand von Christophers und ging näher zu dem Grabstein hin. Er sah die Gravierung.
„Alan M. Turing,  23. Juni 1912 – 7. Juni 1954."  Dazu einen Spruch darunter. Und er sah dass es ihr Zitat war. Die Worte, die Christopher ihm vor langer Zeit einmal gesagt, und die er dann an Joan weitergegeben hatte.  Und er weiß, dass sie auch dafür verantwortlich ist, dass es auf seinem Grab verewigt wurde. Denn sie hatte ihn in seinen dunkelsten Tagen immer wieder an diese Worte erinnert.

Manchmal sind es die Menschen von denen man es sich am wenigsten vorstellen kann, die etwas leisten, das bis dahin unvorstellbar war.

Alan spürte wie Christopher an seine Seite trat und sich ebenfalls den Grabstein ansah. Er lächelte.
„Mir gefällt dein Grabstein", sagte er leise. „Kann uns jemand hören?", fragte Alan flüsternd und sah sich besorgt nach der Gruppe von Leuten um. „Nein", antwortete Christopher, „Niemand kann uns hören oder sehen." Er ging zu den trauernden Gästen, es waren vielleicht zehn, die am Grab versammelt waren und Alan folgte ihm. Er sah wie sie sich unterhielten, aber er hörte nicht was sie sagten. Es war, als wären sie durch eine unsichtbare Glasscheibe von den Leuten getrennt. „Warum können wir sie nicht hören?", fragte er Christopher. „Ich weiß es nicht", antwortete er. „Manche Dinge sollen offenbar nur den Lebenden gehören, aber ich habe nie herausgefunden ob es eine Regel oder etwas dergleichen dafür gibt."

Alan wusste nicht, ob er dankbar sein sollte oder nicht, dafür dass er sie nicht hören konnte. Er sieht jetzt zum ersten Mal richtig zu den Leuten, die da beisammen stehen und sofort sieht er sie – Joan. Sie weint nicht und Alan ist ihr sehr dankbar dafür. Er hatte sie immer für ihre außerordentliche Stärke bewundert. Er sieht noch andere, Leute, mit denen er während des Krieges zusammengearbeitet hatte, Bekannte aus seiner Studienzeit, und seine Eltern. Vor ihnen hatte er sich am meisten gefürchtet, und nun hielt er es nicht aus sie so zu sehen, mit Tränen auf ihren Wangen und zitternden Gliedern, und einer unendlichen Traurigkeit in den Augen. Er wandte sich stattdessen an Christopher.

„Wie war deine Beerdigung?" Christopher seufzte und blieb einige Minuten lang still. Alan wartete geduldig und sah ihn nur an. „Meine Eltern zu sehen hat mich sehr mitgenommen", sagte er dann. „Kinder sollten nicht vor ihren Eltern gehen." Alan nickte. Er beobachtete wie Joan Blumen auf sein Grab legte. Er schloss die Augen. Christopher hatte Recht gehabt. Das Problem waren die Zurückgebliebenen, nicht die Toten. Er wollte sie nicht mehr sehen. Er konnte es nicht. Er würde am liebsten mit ihnen sprechen, sie umarmen, ihnen sagen wie sehr er sie liebte. Doch gleichzeitig wusste er, dass er loslassen musste, wie Christopher es ihm gesagt hatte. Er atmete tief durch und öffnete noch einmal die Augen um sie ein letztes Mal anzusehen. Lass los, sagte er sich immer wieder. Lass sie gehen. Dann drehte er sich von ihnen weg, in dem Wissen dass er sie gerade zum letzten Mal gesehen hatte. Er schloss erneut seine Augen, fühlte aber, dass eine riesige Last von ihm gefallen war.
„Ich denke, ich habe genug gesehen", sagte er schließlich zu Christopher und öffnete wieder seine Augen.
„Willst du gehen?", fragte Christopher.
„Ja, aber wohin?"
„Wohin du willst. Wir können zurück zu unserem Baum, wir können in die Schule..."
„Lass uns zur Wiese zurück", entschied Alan. Sie wandten sich von den Gräbern ab und gingen zurück zur Tür von der sie gekommen waren.

Ein Wiedersehen im Himmel. Eine kurze Geschichte von Leben und Tod.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt