Holzflügel

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Celine starrte an die Decke.
Im Zimmer war es stockfinster. Sie konnte noch nicht mal ihre eigene Hand vor Augen sehen, aber sie wusste, irgendwo da oben war die Decke.
Nach einer Weile griff sie mit ihrer rechten Hand ins Dunkel neben ihrem Bett. Irgendwo da musste ihr Nachtisch sein und irgendwo auf diesem Nachttisch, ihr Wecker.
Mit einem dumpfen Schlag fand die Hand ihr Ziel und während sie versuchte den Wecker zu ertasten fiel etwas klackernd zu Boden.
Celine zuckte kurz zusammen. Nur einen kurzen Moment.
Dann beschloss sie, dass es schon nichts Wichtiges gewesen sein wird.
Die Hand suchte weiter und bekam den Wecker schließlich zu fassen. Das Glas vor Ziffernblatt und Zeigern fühlte sich unangenehm kalt an.
Sie drückte auf den großen, breiten Knopf ganz oben auf dem Gehäuse und ein kleines Licht flackerte auf, dass das Ziffernblatt beleuchtete. Celine musste die Augen zusammenkneifen, bis sich diese an das Licht gewöhnt hatten.
03:24 Uhr. Keine drei Stunden mehr, dann konnte sie endlich wieder aufstehen.
Sie stellte den Wecker zurück auf den Nachttisch und starrte wieder an die Decke.
Sie konnte einfach nicht schlafen.
Nein, sie wollte nicht schlafen.
Wenn sie schlief, kamen nur die Bilder zurück. Bilder, die sie nicht mehr sehen wollte, die sie vergessen wollte! Doch es waren Bilder, und das wusste sie, die sie nie wieder in ihrem Leben vergessen konnte. Sie ertrug es nicht mehr. Nicht eine einzige Nacht mehr. Deswegen hatte sie gestern schon die ganze Zeit wach gelegen und sich einen Film nach dem anderen über ihren Laptop angesehen, um nicht einzuschlafen. Solange bis der Wecker geklingelt hatte und sie sich in die Schule hatte schleppen müssen.
Heute Nacht hatte sie keine Lust Filme zu sehen. Sie hatte keine Lust auf irgendetwas.
Hatte keine Ahnung, was sie mit sich und ihrer Zeit anfangen sollte.
Sie wusste nur, was sie nicht wollte: Träumen.
Also starrte sie weiter an die Decke und jedes Mal, wenn sie drohte einzuschlafen, rief sie sich einen Film von der vorherigen Nacht ins Gedächtnis und versuchte sich wieder an die Handlung und einzelne Szenen zu erinnern.
Es lenkte sie ab. Beschäftigte sie.
Manchmal drifteten ihre Gedanken ab und die Bilder drohten zurück zu kehren.
Kalt. Bleich. Tot. 
Das Gesicht ihres Vaters, zu einer einzigen verzerrten Maske aus Verzweiflung und Schmerz erstarrt. Der Körper blass, leblos und schlaff.
Die Schlinge, die vom Dachbalken hängt und tiefe Furchen in seinen Hals gegraben hatte.
Unbeweglich. Starr. Als wäre die Zeit stehen geblieben.
Diese Bilder waren jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht.
Minutenlang konnte Celine danach keinen Gedanken fassen. Starrte nur die Decke an. In sich unendliche Leere. Ganz so, als wäre sie selbst tot.
Sie wollte vergessen. Einfach nur vergessen.
Wie oft hatte sie sich gewünscht, sie hätte an diesem Tag nicht nach ihm gesucht.
Oder hätte ihn wenigstens nicht gefunden.
Warum nur war ihr die offene Dachbodenluke aufgefallen?
Das war nun höchstens eine Woche her.
Eine Woche in der sie die Bilder gequält hatten.
Bilder. Fragen.
Fragen nach dem ‚Warum’.
Sie hatte gewusst dass es ihm nicht gut ging.
Sie hatte nicht gewusst, dass er sie und ihre Mutter deswegen alleine lassen würde.
Sie erinnerte sich nicht mehr, ob sie geschrien hatte, oder nicht, als sie dort oben auf dem Dachboden stand und ihn angestarrt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort so dagestanden hatte. Hatte sie geweint?
Irgendwann war ihre Mutter gekommen und hatte sie wieder nach unten gebracht, aber auch daran erinnerte sie sich nur noch verschwommen, ganz so, als hätte man ihre Erinnerung in Watte gepackt. Nur diese Bilder waren deutlich.
Sie hatten sich auf ihre Netzhaut eingebrannt. Unwiderruflich.
Celine hatte einfach nur da gesessen, an die Wand gestarrt und leise geweint.
Ihre Mutter hatte die Polizei gerufen.
Die Polizei. Als wäre er ein Verbrecher.
Er war kein Verbrecher, oder?

Der schrille Ton des Weckers riss sie aus ihren Gedanken. Aus ihrer beinahe meditativen Starre.
6 Uhr. Endlich aufstehen.
Erneut suchte die rechte Hand den Wecker. Dieses Mal geleitet von dem nervenaufreibenden Geräusch. Sie bekam ihn zu fassen und schaltete ihn aus.
Der Lichtschalter über ihrem Bett wurde betätigt und flutete den Raum mit entsetzlich hellem, künstlichem Licht, dass Celine in den Augen brannte.
Der Kleiderschrank lustlos geöffnet. Ein paar einfache Kleidungsstücke auf das Bett geworfen.
Es war nicht von Bedeutung, was sie anzog.
So banal. So lächerlich.
Warum sich über solche Dinge noch Gedanken machen?
Es gab wichtigeres und Celine hatte keine Nerven sich mich solchen Problemen auseinander zu setzen. Sie hatte genügend andere.
Celine zog sich an und trat auf den Flur. Sie vermied es nach oben zu sehen.
Die Dachluke. Sie wollte nicht wissen ob sie offen war oder zu.
Nie wieder. Sie wollte es nie wieder wissen.
Nie wieder nach oben sehen.
Sie schleppte sich in die Küche, griff sich eine Schüssel und schüttete Cornflakes hinein.
Weniger Arbeit als ein Brot zu schmieren.
Sie schaufelte sich die Cornflakes in den Mund, obwohl sie früher keine Cornflakes gemocht hatte. Sie waren ihr zu matschig gewesen.
Heute war es egal wie sie schmeckten oder was sie aß.
Hauptsache sie hatte keinen Hunger. Der Rest war nicht mehr von Bedeutung.
Wie so vieles.
Mit ihrer Mutter wechselte sie, wie jeden Morgen seit dem Tag als sie ihren Vater auf dem Dachboden gefunden hatte, kein Wort. Es gab nichts zu sagen.
Beide versuchten auf ihre Art und Weise alles zu verarbeiten und damit zu leben.
Worüber noch Worte verlieren?
Sie redeten nur das Nötigste.
Ihre Mutter hatte ihr vor einigen Tagen angeboten, dass sie zu Hause bleiben kann. Für Celine war es eine Qual zur Schule zu gehen, aber die Alternative war es, allein hier zu bleiben.
Allein mit den Bildern und Gedanken.
Allein mit den Träumen, ohne eine Möglichkeit zu haben, sich für ein paar Stunden abzulenken.
Es war nicht so, dass sie nicht gerne alleine war, aber so wäre sie beinahe den ganzen Tag alleine und wenn nicht, wäre ihre einzige Gesellschaft ihre Mutter. Wenn sie täglich nur Menschen sah, die ebenfalls traurig waren, wie sollte sie sich so noch gegen ihre eigene Verzweiflung wehren?
Also schleppte sie sich doch jeden Tag zur Schule.
Ihre Mutter hielt sie für tapfer, aber Celine wusste es besser.
Sie war feige, weil sie vor den Bildern davon lief. Aber wer konnte es ihr schon verübeln?
Was konnte schon schlimmer sein, als Nacht für Nacht seinen bleichen, toten Vater vor sich zu sehen?

Sie kämpfte sich durch die überfüllte Pausenhalle. Überall waren lachende und fröhliche Gesichter und Schüler plapperten unbedarft über die banalsten Dinge.
Celine hasste sie dafür.
Sie gingen ihr auf die Nerven.
Es gab zu viele von ihnen, sie standen ihr überall im Weg herum und sie hatten nicht die geringste Ahnung vom Leben. Wen interessierte es schon, wer dieses Wochenende auf welcher Party war, oder wer in einer dieser dämlichen Castingshows rausgeflogen war?
Diese Leute wussten nicht, wie diese Welt wirklich war.
Celine wusste es. Deshalb hatte sie auch keine Lust, sich an den Gesprächen zu beteiligen und wollte auch nichts mit ihren Klassenkameraden zu tun haben.
Sie konnten sie ohnehin nicht verstehen, oder auch nur im Geringsten erahnen, wie sie sich fühlte. Die wenigsten wussten was passiert war. Sie hatten nur gemerkt, dass Celine anders war und gingen ihr aus dem Weg. Ihr sollte es recht sein.
Sie fühlte sich wie betäubt. Das Geplapper und Lachen drang nur dumpf an ihr Ohr und alles, worauf sie sich konzentrierte, war einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie würde einfach tun was nötig ist: Hier ihre Zeit absitzen und versuchen den Lehrern so weit wie möglich zuzuhören. Nur um sich abzulenken, nicht weil es sie wirklich interessierte oder ihre Zeugnisnote ihr etwas bedeutete.
Diese Zeiten waren vorbei.
Was waren Noten schon? Was war Erfolg schon?
Am Ende zählte das alles nicht mehr. Der Tod unterscheidet nicht zwischen den Menschen.
Asche zu Asche.
Als sie sich endlich zu ihrem Klassenraum durchgekämpft hatte, stand die Tür bereits offen. Sie seufzte erleichtert. Wenigstens musste sie so nicht mehr länger in diesen Menschenmassen warten, sondern konnte sich schon auf ihren Stuhl in eine der hinteren Reihen setzen.
Sofort fühlte sie sich wohler. Es war viel leiser als in der Pausenhalle und sie fühlte sich von all den Leuten nicht mehr so bedrängt.
Dem Unterricht konnte sie schließlich trotz allem nicht folgen. Ihr Kopf fühlte sich noch immer so dumpf an, als hätte man ihn mit Watte gefüllt und sie glaubte langsam, aber sicher Kopfschmerzen zu bekommen. Der Schlafentzug machte sich mal wieder bemerkbar.
Ihr fehlte die Konzentration und es fiel ihr immer schwerer die Augen offen zu halten. Sie war froh über jede vergangene Stunde in der sie es geschafft hatte nicht einzuschlafen und schließlich, den Schultag vollkommen überstanden zu haben.
Wie lange würde sie all das wohl noch mit machen können?
Sie wusste es nicht, doch nun begann erstmal die schönste Zeit des Tages.
Nach der Schule war Celine immer allein zu Hause. Ihre Mutter musste länger arbeiten und so musste Celine nicht ständig die traurigen und sorgenvollen Blicke ihrer Mutter ertragen, oder die traurige Musik, die sie in letzter Zeit immer hörte, während sie stundenlang nur stumm da saß und aus dem Fenster starrte.
Celine tat es weh ihre Mutter so zu sehen, weshalb sie die meiste Zeit in ihrem Zimmer verbrachte, doch noch gehörte die Wohnung ihr ganz allein.
Die Schultasche flog mit Schwung in die Ecke und sie zog die Schuhe aus, ohne sich die Mühe zu machen, die Schnürsenkel vorher zu öffnen.
In der Küche machte sie sich erstmal einen Kaffee. Dann einen Espresso, noch einen Espresso und kippte alles zusammen in eine große Tasse.
Sie brauchte dringend Koffein und es brauchte schon einiges an Koffein, um sie noch wirklich wach zu halten. Celine befürchtete, dass das Koffein so langsam seine Wirkung verlor, weil sich ihr Körper die letzten Tage schon viel zu sehr daran gewöhnt hatte.
Sie schnappte die Tasse und schlurfte damit in ihr Zimmer. Der Boden war noch immer übersäht mit zahllosen Kleidungsstücken und allen anderen möglichen Kram. Sie hatte die letzten Tage keine Kraft gefunden, das Chaos wieder zu beseitigen und ihr persönlich war es vollkommen gleichgültig wie ihr Zimmer aussah. Sie fühlte sich so oder so schrecklich.
Sie schob die Sachen, vor allem leere Tassen, mit denen ihr Nachttisch voll gestellt war, näher beisammen, um Platz für die neue Kaffeetasse zu machen. Irgendwann würden ihr die Tassen ausgehen. Spätestens dann würde sie wenigstens ihren Nachttisch aufräumen müssen.
Sie schmiss sich auf ihr Bett, griff sich einen ihrer heiß geliebten Fantasyromane und begann zu lesen. Sie tauchte in eine neue Welt ein. Eine Welt fernab von all dem Elend, in dem sie steckte. Eine Welt mit fremdartigen Wesen und manchmal bildete sie sich ein, dort ein eigenes glücklicheres Leben zu führen.
Ach, wäre die Welt doch nur ein Fantasyroman!
Was für Möglichkeiten sie dann hätte! Wie viel glücklicher sie dort wäre…

Sie war vielleicht sieben Jahre alt.
Damals hatte sie ihr blondes Haar noch zu zwei Zöpfen geflochten.
Die Sommersonne schien ihr warm ins Gesicht und sie schloss die Augen. Der seichte Wind rauschte sanft durch die Ähren des Kornfeldes unter ihr und ein angenehmer Duft von Wiesen und Feldern hing in der Luft. Celine lächelte und öffnete die Augen wieder.
Neben ihr saß ihr Vater und lächelte ebenfalls. In seiner Hand hatte er ein kleines Holzstück an dem er schon eine ganze Weile schnitzte. Langsam sah es immer mehr aus, wie ein kleiner Vogel. Sie saßen gemeinsam in dem Baumhaus, dass er für sie gebaut hatte und er erzählte ihr Geschichten, während er das kleine Holzstück weiter mit dem großen Schnitzmesser bearbeitete und kleine Holzspäne nach unten auf den Boden zwischen die Kornähren segelten. Es waren beeindruckende Geschichten, von Abenteuern, fernen Welten, von gefährlichen Räubern und Banditen. Celine liebte seine Geschichten. Vor allem weil er ihr in den meisten seiner Erzählungen eine tragende Rolle gab oder sie sogar zur Hauptperson machte und während sie ihm lauschte, ließ sie die Füße baumeln.
Irgendwann fielen keine Holzspäne mehr, das Messer wurde weggepackt und ihr Vater reichte Celine den kleinen, fertigen Vogel.
„Weißt du, wofür ein Vogel steht?“, fragte er sie in seiner ruhigen, sanften Stimme. Celine schüttelte den Kopf und nahm den Vogel in die kleinen Hände. Das Holz war weich und hell. Wenn sie mit dem Finger darüber strich, konnte sie die Furchen und Unebenheiten fühlen, die das Messer hinterlassen hatte.
„Ein Vogel kann fliegen, deshalb steht er für Freiheit. Er kann überall hin wo er möchte.“
Celine funkelte ihn begeistert an: „Bringt er mich dann auch überall hin wo ich möchte?“ Er lachte, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr dann ins Ohr: „Wenn du die Augen schließt und ganz fest daran glaubst bestimmt.“

Celine schreckte aus dem Schlaf hoch und blickte sich hektisch im Raum um.
Sie war allein. Draußen vor dem Fenster war es schon dämmrig geworden. Das Buch, das sie gelesen hatte, lag noch aufgeschlagen auf ihrem Oberkörper.
Sie war beim Lesen eingeschlafen.
Verdammt.
Der Kaffe war kalt und ihr Kopf dröhnte, doch jetzt wusste sie die Antwort: Es gab eine Sache die schlimmer war, als Nacht für Nacht von seinem toten, blassen Vater zu träumen. Etwas das schlimmer war, als dass Bild seines schlaffen Körpers, wie er leblos an der Schlinge vom Dachbalken hing, schlimmer als die trüben Augen, die in weite Ferne zu starren schienen. 
Nein, denn schlimmer als all das war, ihn lebendig zu sehen, zu träumen, er würde neben einem sitzen, einen umarmen. Denn früher oder später würde man aufwachen und feststellen, dass es doch nur ein Traum gewesen war und dann…
Dann traf einen die Erkenntnis noch härter. Unvorbereitet und mit voller Wucht.
Eine Welle aus Einsamkeit, Trauer und Verzweiflung.
Verlassen vom Vater.
Verlassen von der Welt.
Sie allein.
Und er?
Fort. Fort für immer.
Erst jetzt fiel ihr Blick auf den Boden neben ihrem Bett. 
Dort lag ein kleiner, hölzerner Vogel, der wohl vom Nachtisch gefallen sein musste, als Celine in der Nacht den Wecker gesucht hatte. Seine Flügel waren gespreizt, ganz so, als wolle er jeden Moment Losfliegen. Der Schnabel geöffnet zu einem lauten Ruf.
Einem Ruf nach Freiheit. 

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