Der Wanderer *LESEPROBE* - Prolog

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Das sanfte Rauschen der Wellen schob sich langsam in die Gedanken des Mannes und schwemmte die Dunkelheit der Ohnmacht hinfort. Das eiskalte Meerwasser ließ seine nackten Füße und Zehen erzittern. Eine leichte Bläue überzog die schrumpelige und zerknitterte Haut. Schwerfällig bewegte er die Lippen, schmeckte das Salz des Ozeans und lauschte in seinen Körper hinein. Die Kälte war allgegenwärtig, schubweise kroch das Zittern durch seine Gliedmaßen, während er versuchte vorsichtig die Lider zu öffnen. Die Wimpern waren verklebt und er blinzelte in die ungewohnte Helligkeit des Tages. Düstere Wolken hingen tief am Himmel und ließen die Sonne nur erahnen. Es war ein Tag, der wie ein Spiegelbild des einsamen Mannes schien. Nebulös, kalt und nass. Er drehte den Kopf ein wenig und aus den Schemen, die ihn umgaben, formte sich allmählich das Bild eines Strandes. Um ihn herum befanden sich nasser Sand, die grauen Wogen des Meeres, die immer wieder sanft ausliefen, und eine Küste aus kantigen und schroffen Felsen. Der Wind wehte mild, kitzelte ihn und fuhr sanft durch seine Haare. Er stöhnte leise auf, als er die Muskeln anspannte und sich vom feuchten Untergrund hochdrückte. Der salzige Geschmack auf der Zunge störte ihn, daher sammelte er ein wenig Speichel in seiner vertrockneten Mundhöhle und spuckte ihn aus. Sein dünner und ausgemergelter Leib bebte, als er sich aufsetzte.

Wo war er? Er legte die Hand an seinen Kopf, hoffte dem pochenden Schmerz so ein wenig Linderung zu verschaffen und setzte den Fuß vorsichtig auf. Es kostete Kraft, es tat weh, aber trotz des aufkeimenden Schwindels gelang es ihm, sich aufzurichten. Er schüttelte sich frierend und sehnte sich ein wenig Wärme in dieser unwirtlichen Gegend herbei. Mit seinen eisblauen Augen, die ebenso kalt erschienen wie dieser Ort, überprüfte er seinen Körper: Schrammen, Flecken, doch alles in allem nichts, was ihm Sorgen bereiten müsste. Die steifen Knochen ächzten unter der Belastung. Die Kälte und die wahrscheinlich lange Zeit, in der er hier am Strand lag, hatten ihre Wirkung gezeigt und so wunderte es ihn nicht, dass seine Gelenke sich nun gegen die ungewohnte Bewegung wehrten.

Wie lange war er wohl ohnmächtig gewesen? Wie lange hatte er dort gelegen und vor allem: weshalb? Er hob zitternd das Kinn, begutachtete die Umgebung und wünschte sich ein Anzeichen von Leben herbei. Aufmerksam suchte er die nahe Gegend nach einer Hütte, einem Unterstand oder auch nur einer Straße ab. Leider vergebens. Nachdenklich fuhr er über sein Kinn, strich durch die feinen Barthaare und schob die Überreste des feuchten Sandes aus der Behaarung. Die Leere um ihn schien nach ihm zu greifen und sammelte ihre Kräfte nur um ihn letztendlich zu erdrücken. Seine blau verfärbten Lippen vibrierten vor Kälte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und rieb seine Hände kräftig über die nackte Haut, mit der Hoffnung, die stechende Kühle zu vertreiben.

Viel dringender kämpfte sich aber etwas anderes tief aus seinem Herzen empor und traf ihn unvorbereitet hart. Die Leere hatte seinen Geist ergriffen und nun zeigte sich diese Erkenntnis - formuliert in einer Frage: Wer war er? Tiefschwarze Dunkelheit belagerte seine Erinnerung. Kein Name, noch nicht mal Konturen und erst recht keine Bilder tauchten auf, nichts war mehr vorhanden, was ihm hätte Halt geben können. Er schluckte und die Bitterkeit seines Schicksals drängte sogar den allgegenwärtigen Geschmack des Meersalzes hinfort. Langsam tat er einen Schritt nach vorne und versuchte, Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Ein endloser schwarzer Strudel verschlang jedes noch so kleine Bild. Jedes Fragment, das sich anschickte in sein Bewusstsein einzukehren, wurde in tiefe Finsternis hinabgesogen.

Nach und nach hinterließ er Fußspuren im Sand - die einzigen Erinnerungen, die er in diesem Moment sein Eigen nennen konnte. Seine dürren Finger bohrten sich tief in seine verschränkten Arme, sie krampften vor Kälte, die ihn von innen und außen einnahm. Schritt um Schritt, den Rücken ein wenig gebeugt, erzeugte er immer weitere Spuren. ›Ihr Götter, was habe ich getan, wenn ihr mir nicht einmal meinen Namen lasst‹, dachte er. Wie alt war er? Hatte er eine Familie? Weshalb war er nackt? Die Menge an Fragen überflutete seine Gedankenwelt und zog sich, wie die Wellen am Strand, ein wenig zurück, doch mit jeder Woge kamen neue Rätsel auf, die fortan wieder in der Erinnerungslosigkeit verschwanden. Er schleppte sich mehr, als dass er lief und blickte erneut zurück auf die graue, schier endlose See. Die Kälte hatte einen neuen Verbündeten mitgebracht: die Angst.

Ein Gefühl von Verlorenheit breitete sich in ihm aus. Mühsam kämpfte er die Emotionen nieder. Aus der Angst keimte Panik auf. Dennoch versuchte er, die Situation so sachlich wie möglich zu analysieren: War er ein Schiffbrüchiger? Doch dann hätte er immer noch seine Kleider. Er trug einen Bart, aber ob dieser sauber gestutzt war, konnte er nicht erfühlen. Seine Haare gaben ihm auch keine weiteren Hinweise, sie hingen durcheinander von seinem Kopf herunter.

Schwarze Wolken zogen sich über dem Ozean zusammen und stoben in Richtung Küste. Der Himmel leuchtete grell auf, ein einzelner, zart verästelter Blitz schlug ins Wasser ein und ließ nur wenige Atemzüge später ein Donnern über den Strand grollen. Der schmächtige Mann zuckte zusammen, wandte kurz den Blick ab, um im nächsten Moment wieder auf die offene See zu schauen. Dunkelschwarze Fäden von drohenden Regenschauern hingen über den Wellen und deutlich konnte man erkennen, wie sie näher kamen. Die Meeresfläche, die durch die Regentropfen aufgeraut wurde, näherte sich unheilvoll dem Strand. Es wirkte, als würde sich das Wasser bewegen, aber es waren die Tropfen, die aus den finsteren Wolken fielen.

Der Wind frischte auf und die Wellen wurden wilder und unbändiger. Ein Sturm kündigte sich an, gewaltig und unaufhaltsam. Er musste hier weg, je schneller, desto besser. Nur wohin? Weder wusste er, wo er war, noch wohin er gehen konnte. Er fühlte sich schwach und jeder Schritt im tiefen und nassen Sand war eine Qual. Einige Male meinte er das Knirschen seiner Kniegelenke deutlich zu hören, biss sich jedoch auf die Lippen und ignorierte den bitteren Schmerz, der durch seine Venen strahlte. Er versuchte zu sammeln, was er wusste: Nackt war er an den Strand gespült worden, seine Haut war aufgequollen, woraus er folgerte, dass er einige Zeit im Wasser verbracht haben musste. Eine Spur im Sand hatte er nicht gesehen, daher konnte er davon ausgehen, dass niemand ihm die Kleider genommen hatte, als er bewusstlos war. Alles lief also in eine elementare Frage hinaus: Wie war er nackt ins Wasser geraten? Kälteschauer rissen ihn schmerzhaft aus den Gedanken, aus der Suche nach dem, was gewesen war, und zogen ihn brutal zurück in das Hier und Jetzt. Es war eisig kalt, der Wind wurde immer einschneidender, Platzregen drohte und ein Sturm plusterte sich machtvoll auf. Seine gesamten Sehnsüchte konzentrierten sich in diesen Sekunden nur auf ein einziges Ziel: Wärme. Er benötigte Kleider und einen Unterschlupf.

Viel Zeit blieb ihm nicht.

Er schwankte leicht, als er beschwerlich den Strand hinaufschritt. Hinter ihm verdunkelte sich der Himmel immer bedrohlicher und über der See hatte der Sturm bereits begonnen.



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