Noch 22 Tage

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"Und dann rufen diese Stimmen, diese Stimmen aus dem Sumpf:
Lass los, lass dich fallen, dann gehörst du zu uns!" -Antilopen Gang

Schweißnass geschwitzt fahre ich hoch. Es war ein Traum, nur ein Traum versuchte ich mich zu beruhigen. Das alles ist ein Traum, nur ein Traum. Alice lebt noch. Der Gedanke ließ zu, dass sich der schwere Mantel des Schlafes sich wieder schützend über mich legte. Doch er konnte mich nicht ganz eindecken, denn ich schreckte wieder hoch. Er hatte mich belogen der Schlaf! Es war kein Traum, Alice ist tot. Immernoch. Ein Blick auf den Wecker ließ mich seufzend aufstehen. In einer halben Stunde würde er sowieso klingeln. Und das Klingeln war am aller schlimmsten.

Also stand ich auf, trank ein Glas Wasser und setzte mich an den Frühstückstisch. "Na, Schlafmütze?" ärgerte mich meine Mutter. "Was is denn?" fragte ich sie genervt im Halbschlaf. Normalerweise würde ich jetzt die ganze Zeit gegen Tränen ankämpfen, nicht wegen meiner Mutter, nein, einfach wegen meinem Leben. Wegen meinem überflüssigen Leben, doch ich hatte mich geändert! Ich habe den Entschluss gefasst und bald...Alice...bald bin ich bei dir.

Ich ging aus dem Haus, mit meinem Ranzen, aber ich ging nicht zur Schule. Denn was bringt es schon? NIX. Kurz nach Alices Tot haben sie mich immer an komische Schulpsychologen weitergeleitet. Immer habe ich geantwortet:"Ja, ja es geht schon.", "Nein, ich habe keine Selbstmord gedanken."
Sie sollten mich doch bloß in Ruhe lassen! Alice & Ich...wir waren beste Freunde. Sie wusste alles von mir und ich wusste alles von ihr. Jeden freien Tag hab ich bei ihr oder sie bei mir übernachtet. "Ihr seid so wie Zwillinge." stellten unsere Mitmenschen immer lachend fest. Daraufhin haben wir auch immer genickt und behauptet, eigentlich wären wir Schwestern, aber man habe mich mit ihrer 1-Jahr jüngeren Schwester vertauscht. Und an ihrem letzten Tag, als sie mir noch diese letzte Nachricht schrieb und ich doch gar keine Ahnung hatte was sie vorhatte! Und dann, als ich es erfuhr brach meine gesamte Welt zusammen. Fragen über Fragen stellte man mich, ob ich etwas gewusst habe, ob ich etwas geahnt habe usw. doch ich musste sie immer verneinen. Ich hatte nichts geahnt, ich war doch einfach blind gewesen! Immer wenn ich zurück schaue auf die Zeit in der sie noch gelebt hatte, war alles so klar! Es hatte so viele Andeutungen gegeben, aber ich konnte doch nicht wissen, das...

Ich schüttelte mein Kopf und konzentrierte mich wieder auf den Weg, den ich jetzt schon so oft gegangen bin. An den vielen Häusern vorbei, bis ich an einer Abzweigung stand. Links oder rechts? Diese Frage stellte ich mir nicht zum ersten mal. Rechts geht es zur Schule und links wartete der Wald auf mich, der "magische" Wald hatte Alice immer gesagt, dabei warf sie ihre Haare immer zurück und schaute einen geheimnisvoll lächelnd an. Die Entscheidung war ganz leicht, routinemäßig bog ich links in den Wald ab. Eine Alte Frau stand auf der Therasse und beobachtete mich misstrauisch, das sah ich aber nicht. Schon sehr lange sah ich nicht mehr diese ganzen Blicke der Leute, viel zu oft haben sie mich schon angestarrt, mit ihren Blicken durchbohrt. Mein Schutzschild war durchbrochen, doch ich brauchte es auch nicht mehr. Als ich dann endlich im Wald war trafen mich all die Erinnerungen wieder wie ein Schlag. Als ich sie einmal dort sah, angelehnt an einem Baum und das Gesicht in den Händen vergraben. Das war zwei Tage vor ihrem Selbstmord. Als sie mich bemerkte und mich müde anlächelte und ich sie in den Arm nahm, ihr Mut zusproch und dachte sie weinte bloß weil ihr Freund wegziehen musste, nein ich lag falsch. Es war so viel mehr als nur ihr Freund, es war diese abgefuckte Welt, die einen zerreist, deine Pläne zerschlägt und dir dann in dein verheultes Gesicht lacht.

Langsam lief ich auf den See zu. Den See der Perfektion. Ich setzte mich auf eine Bank, starrte in das klare Wasser und ließ meine Gedanken treiben. Ich bemerkte nicht, wie es anfing zu schneien und das sich ganz langsam die feinen Schneeflocken in meinen Haaren wiederfanden. Erst als ich Schüttelfrost bekam, spürte ich meinen verdammten Körper wieder, den ich wie so oft versucht hatte zu vergessen. Wie gerne wäre ich jetzt schon da oben, bei dir Alice. Der Schnee blieb liegen, es waren um die 0 Grad und ich frierte und frierte und frierte. Ich zog meine Jacke an. Verdammt, mal wieder hattest du gewonnen Körper, doch bald werde ich es schaffen deine egoistischen Schreie nach Wärme, Luft und nach Leben zu ignorieren. Langsam machte ich ein paar Schritte auf das Wasser zu. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Als ich meine Hand in das eiskalte Wasser hielt fing ich an zu lächeln. Ich stellte mir vor wie der Grund wohl aussehen würde. Ich sah Algen die bereit waren nach den Handgelenken und Füßen zu greifen, die sich um sie schlingeln würden und sie unten halten würden. Ich sah Alice die nur auf mich wartete, seit einem Jahr. Ich sah Fische die sich wie schaulustige um einen Kreisen würden und dann sah ich diese unendliche Schwärze, die so beruhigend wirkte im Gegensatz zu dem Leben. Am Anfang wirkte sie kalt und Hasserfüllt, aber wenn man sich ihr hingibt, dann umarmt sie dich liebevoll und lässt dich vergessen...

Ich blickte auf die Uhr, mittlerweile war es bereits 11:30 Uhr. Also machte ich mich langsam auf den zu Hause Weg und spielte mit dem Gedanken einen kleinen Umweg zu machen über den Weihnachtsmarkt. Es wäre sowieso das letzte Mal das ich da wäre. Nichtsdestotrotz schüttelte ich einfach meinen Kopf, ich wollte nicht da sein, nicht da wo die ganzen Menschen waren, der Weihnachtspunsch, die nervigen Kinder und all diese Gerüche. Ich konnte es jeden Tag weniger ertragen die Unbeschwertheit von anderen zu sehen. Denn ganz tief drinnen, und das wollte ich mir einfach nicht eingestehen, wollte ich genauso sein, wieder unbeschwert lachen zu können und einfach dieses Leben kurz zu vergessen. Aber auf meinem Herz lastete ein tonnenschwerer Stein der mich Tag zu Tag weiter niederdrückte und mich immer diesen Stich spüren ließ wenn ich mal lachen konnte. Immer wieder vergiftete mich dieser Gedanken, dass ich egoistisch sei, denn Alice ist tot, Selbstmord und ich lache hier?!
Die Gedanken waren lauter als diese die Zweifel daran hatten, dass Alice es mir nicht gönnen würde auch mal glücklich zu sein. Die Gedanken ließen jede Hoffnung im Keim ersticken.

Noch 22 Tage...



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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 02, 2015 ⏰

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