Prolog

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Ich wurde mit 11 Seelenjäger.
Im Prinzip war mein Leben schon immer eine riesige Katastrophe: Eltern getrennt, Vater weit weg und desinteressiert an allem was auch nur im Entferntesten mit mir zu tun hatte, Mutter viel zu gutherzig, wenig Geld, und das Geld, was ihre mickrigen und ständig wechselnden Jobs abwarfen, spendete sie auch noch an irgendwelche betrügerischen Hilfsorganisationen.
Sie war so damit beschäftigt, uns durchzuschlagen, dass sie sich kaum um mich kümmerte, auch wenn sie es mit allen Kräften versuchte.
Das Schlimmste ist, ich nahm nicht mal wahr, wie sie sich abmühte, meckerte an allem herum und war aus heutiger Sicht betrachtet der undankbarste Junge, den man sich nur vorstellen kann.
Und dann plötzlich, von einem Tag auf den anderen, gab es sie nicht mehr.
Sie starb bei einem Autounfall.
Es war der einundzwanzigste April, ein lauer Frühlingstag mit strahlend blauem Himmel und milden Temperaturen.
Sie teilten es mir noch in der Schule mit. Englisch Unterricht, sechste Stunde, alle waren bereit das Wochenende anzutreten, zählten die Minuten bis zum Unterrichtsschluss und ich mit ihnen- hatte ich doch keine Ahnung, was mich erwartete.
„Nathan, du musst mitkommen."
Ich höre die Worte meiner Direktorin jetzt noch durch die stille Schule hallen.
„Du musst mitkommen. Es ist etwas Schreckliches passiert."
Wie schrecklich das Geschehene wirklich war, begriff ich nicht, auch nicht nach Tagen, auch nicht nach Monaten oder Jahren.
Mein altes Leben wurde mir entrissen- und durch ein neues entsetzt.
Ein Leben, das ich hasste. Ich hasste das Kinderheim, ich hasste und verfluchte alles und jeden.
Als sie mir sagten, dass eine Frau gekommen war, die mich adoptieren wollte, nahm ich es nicht mal richtig wahr.
Sie war groß, blass, mit hervorstehenden Knochen und roten Lippen. Sie hatte sich uns alle angesehen, ganz unauffällig, beim Mittagessen und mich ausgewählt.
„Du wirst eine Schwester bekommen, eine richtige Familie", sagte mir die Leiterin des Kinderheims, sie war ganz euphorisch.
Was sie wahrscheinlich nicht gewesen wäre, wenn sie die Wahrheit gewusst hätte.
Denn Robina Parawina war keine normale vierzigjährige, kinderliebe unverheiratete Frau.
Sie war eine Seelenfängerin.
Und wir waren ihre Jäger.
Als sie mich auserwählte, wie sie es nannte, war Mira bereits Seelenjägerin, mit gerade mal zehn Jahren. Im Laufe der Zeit kamen Layla und Paulette hinzu.
Robina sagte uns, dass es auf der Welt viele Seelen gäbe, die nicht hierher gehörten, sondern in den Himmel. Unsere Aufgabe war es, besonders reine und heile Seelen zu finden, viel zu rein und heil für diese Welt, und sie zu ihr zu bringen; sie kümmerte sich darum, dass die Seelen in den Himmel kam.
Vielleicht klingt es unverständlich, aber ich dachte nicht viel über meine Aufgabe nach. Ich dachte generell nicht mehr viel nach.
Wie gesagt, ich hasste alles und jeden.
Reine, heile Seelen zu finden war nicht schwer. Augen spiegeln Seelen wider. Leere Augen bedeuten leere Seelen. Strahlende Augen zeigen Seelen die in den Himmel gehören, lernten wir von Robina.
Wir zogen immer wieder um, sobald wir ihr genug heile Seelen gebracht hatten.
Seelen zu jagen war einfach: wir mussten uns bloß mit den Kindern anfreunden und sie nach Hause bringen.
Es passierte ein, zwei Mal, dass Robina von uns gejagte Seelen zurückwies.
„Schaut genauer hin", knurrte sie dann mit zusammen gebissenen Zähnen. „Ihr verschwendet meine Zeit."
Das kam bei den anderen oft vor, bei mir jedoch nie.
Ich hatte ein gutes Auge für heile Seelen.
Robina wusste das.
„Du bist der geborene Seelenjäger, Nathan", hatte sie mir einmal gesagt. „Das wusste ich schon, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Du hast etwas an dir, das die reinen Seelen anzieht. Du erkennst sie sofort. Und du kriegst sie. Alle."
Das stimmte.
Ich bekam sie alle.
Mädchen rannten mir hinterher wie die Motten dem Licht, Jungen wollten mit mir befreundet sein. Ich war der geheimnisvolle Neue.
Und sie langweilten mich.
Ich fragte nicht, was mit ihnen passierte, nachdem ich sie nach Hause gebracht und danach nie wieder gesehen hatte.
Es war mir egal.
Ich begegnete in meinem ganzen Leben nicht einem Menschen, den ich nach unserem Umzug vermisste, der auch nur irgendetwas in mir bewegt hätte.
Deshalb fragte ich nicht.
Kein einziges Mal.
Ich wollte es nicht wissen.
Bis ich Elli traf.

Die SeelenjägerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt