60 days before

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Als ich sie das erste Mal sah, war es bereits Abend. Ich schloss gerade die Tür des Lagers und wollte den Laden verlassen, als ich sie sah. Sie lief dort lang, im Dunkeln, kaum zu erkennen. Trug eine Jogginghose, einen viel zu großen Pulli und eine Lederjacke. Vor ihr her lief ein mittelgroßer schwarzer Hund und sie sah nicht auf. Die Haare fielen ihr ins Gesicht, sodass ich es kaum erkennen konnte.
So lief sie an mir vorbei, ohne mich zu bemerken.
Wie in Trance beobachtete ich sie weiter und bewegte mich auch in dem Moment noch nicht, als sie bereits hinter dem nächsten Haus verschwunden war. Ich musste mich zusammenreißen, griff nach dem Geldbeutel und schloss die Tür hinter mir. Das Licht aus dem Inneren beleuchtete die Straße leicht und spiegelte sich in den Pfützen. Ich rümpfte die Nase und stapfte los. Meine Haare lagen in wuscheligen Locken um meinen Kopf herum, doch ich wusste, das ich zuhause unter die Dusche steigen würde, also ließ ich die kleinen Regentropfen in meinen Haaren landen ohne mich weiter daran zu stören. Ich würde morgen bereits früh wieder aus dem Haus müssen, weshalb ich mich schnellen Schrittes nach Hause begab. Den Abend würde ich wohl nur mit einem Kapitel eines Buches und einem Tee verbringen, doch das machte mir nichts aus. Seit zwei Jahren wohnte ich jetzt komplett allein, nicht mehr im Haus meiner Eltern und auch nicht mehr in der unerträglichen, überteuerten Studentenbude. Nach drei Semestern Neurologie hatte ich eine Pause einlegen müssen, zum einen des Geldes wegen, zum anderen aufgrund des unglaublich hohen Stresspegels. Also suchte ich mir einen Job. Natürlich endete ich in einem Café. "Mainstream". Armer Student arbeitet in Café, während die Freunde zu Besuch kommen und Mist bauen. Nur das ich nicht den Job bei Starbucks annahm, sondern den in einem altmodischen Café, mit kleinen Fenstern, verhangen von kleinen Gardinchen, mit kleinen Bänken, kleinen Tischen, kleinen Teetassen. Auf den ersten Blick würde ich wohl nicht hier rein passen. Ich war nicht altmodisch, nicht hipster oder in sonstiger Weise mit solchen Cafés verbunden. Dennoch war ich zufrieden in meinem Café. Es würde schwer werden, nach dieser Pause wieder einzusteigen. Das Studium war hart, unglaublich hart. Und teuer. Nachdem ich dann endlich aus der teuren WG mit komischen Leuten ausgezogen war, konnte ich mir, dank meines Jobs, eine andere Wohnung leisten. Auch nicht billig, aber viel besser. Ich war kein Gesellschaftsmensch, war lieber allein zugange als mich von Massen an Menschen ablenken zu lassen. Ich vergass Gesichter und Namen schnell, hatte nie viel Zeit darauf verschwendet auf die Leute in meiner Umgebung zu achten. Und dennoch konnte ich mich an diesem Abend nicht auf das Buch konzentrieren. Ihr Bild hing mir im Kopf wie eine Klette und blieb mir auch mit geschlossenen Augen noch erhalten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 08, 2016 ⏰

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