Das Kind

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Lyn saß im Gebüsch und beobachtete einen Hirsch. Es war ein prächtiges Tier, sein Fell schimmerte sanft und die großen Augen glänzten nass. Der Hirsch hatte seinen Kopf hinunter gebeugt, und fraß das Gras, an dem noch Tau haftete. Lyns lederne Hose war bereits durchnässt, und ihre Beine schmerzten, sie saß immerhin bereits eine halbe Stunde in der Hocke. Aber es störte sie nicht, Lyn fand, dass der Anblick des Hirsches es wert war. Mit dem Finger zählte sie die Spitzen des Geweihs. Eins, zwei, drei, vierzehn Enden besaß es. Das Mädchen verlagerte leicht das Gewicht, und das Laub unter ihr raschelte. Der Hirsch hob den Kopf und blickte angespannt in ihre Richtung, dann sprang er mit einigen gewaltigen Sätzen davon.

Enttäuscht seufzte sie und richtete sich auf. Es war noch früh am Morgen, die Vögel hatten noch nicht begonnen ihr Lied zu singen aber in der Ferne war ein Kuckuck bereits fleißig an der Arbeit. Ein wenig Bodennebel hielt sich noch, doch er würde bald verschwunden sein. Lyn mochte die Ruhe und das Geheimnisvolle, die den Wald in den Morgenstunden beherrschten. Auch den frischen Geruch liebte sie, obwohl die kalte Luft ihr in den Lungen stach.

Lyn war nun eine Viertelstunde Fußmarsch von dem Ort, an dem sie den Hirschen gesehen hatte entfernt. Inzwischen achtete sie nicht mehr auf ihre Umgebung sondern war ganz in Gedanken versunken. Plötzlich packte eine Hand ihren Arm und wirbelte sie herum.

„Hab ich dich endlich!" sagte eine zornige Stimme.

Vor ihr ragte ein großer Mann auf. Er war in Grün gekleidet und blonde, unordentliche Haare fielen ihm über die Schultern.

„Was fällt dir ein einfach so abzuhauen? Wenn dich jetzt ein Kobold, eine Harpyie, oder noch schlimmer, ein Troll dich erwischt hätte?" schimpfte er.

„Aber Onkel Vór, die Kobolde halten doch noch Winterschlaf, für die Harpyien ist der Wald zu dicht und die Trolle gibt es doch gar nicht!" entgegnete das Mädchen.

Vórs Augen wurden für einen Moment leer, dann hatte er sich aber wieder unter Kontrolle.

„Wie bist du eigentlich an Leif vorbeigekommen?" fragte er.

„Sag ich dir nicht. Sonst müsste ich mir ja was neues einfallen lassen." grinste das Mädchen frech.

Vór schüttelte den Kopf, „Womit hab ich das verdient?" dann blickte er sie streng an, „Du, junge Dame, hast Ausgangsverbot und wenn du dich trotzdem wieder davonschleichst, gibt es kein Geburtstagsessen und auch keine Geschenke."

Damit wandte er sich ab und stapfte davon, sie hinterher ziehend. Sie grinste hinter seinem Rücken. Er würde den Vormittag über wütend sein, aber spätestens am Abend würde sein Zorn verraucht sein.

Nach einer Weile öffnete sich der Wald etwas und eine Felshöhe erhob sich vor ihnen. Eine Quelle entsprang dem grauen Stein und plätscherte munter in den Wald hinein. Das Wasser war kalt und klar, Lyn wusste es aus eigener Erfahrung, schließlich trank sie tagtäglich daraus. Einmal hatte sie das Ende des Baches finden wollen, doch der floss so weit in den Wald hinein, dass sie zwei Tage unterwegs war, bis sie aufgeben musste, da das Dickicht zu dicht geworden war. Damals hatten Vór und die Anderen sie auch gesucht und alle waren sehr erleichtert gewesen, als Hrolf sie zurückgebracht hatte. Lyn lächelte bei dem Gedanken daran. Sie hatte furchtbare Angst gehabt, weil sie den Weg zurück nicht mehr gefunden hatte und als Hrolf sie gefunden hatte war sie ihm um den Hals gefallen und hatte vor Erleichterung geweint, trotzdem hatte er ihr versprechen müssen, nichts davon zu verraten.

Lyn und Vór erklommen den steilen Pfad zu dem kleinen Plateau. Von dort hatte man einen tollen Blick nach Süden, auch wenn man weit und breit nur Bäume sah. Lyn saß gerne dort, ließ sich von den Sonnenstrahlen kitzeln und genoss den Anblick, wenn hunderte Bäume im Wind schaukelten.

TrollkindWhere stories live. Discover now