Ein erneuter Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass sich seit dem letzten Blick vor circa 10 Minuten, eigentlich nichts verändert hatte. Ein paar Grundschulkinder rannten eilig über die Straße, um nicht in die Gefahr zu geraten von einem Auto angefahren zu werden. Eine Gruppe älterer Schüler machte sich langsam auf den Weg zurück in die Schule, während sie ihre letzten Zigaretten ausrauchten. Sonst war die Straße menschenleer.
Die große Eiche stand immer noch ein paar Meter von dem Gebäude entfernt und ihre Blätter wehten in der sommerlichen Brise in einem gleichmäßigen Takt. Dieser Anblick war ihr so vertraut. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass sie in diesem Zimmer saß und gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Das hatte sie in den letzten Jahren schon sehr oft getan.
Gerade, als sie ihren Blick abwenden wollte, flog ein kleiner Vogel zu der Eiche. Bei genauerem Betrachten konnte man ein Nest erkennen, aus dem sich gierig drei kleine Schnäbel in die Richtung der Mutter reckten. Der Vogel fütterte diese und wollte gerade wieder wegfliegen, als er einfach sitzen blieb. Es fühlte sich so an, als ob der Vogel ihr direkt ins Gesicht schauen würde. Er neigte seinen Kopf leicht nach links und ohne es zu bemerken tat sie es ihm gleich.
Eine Weile verharrte der Vogel so, bis er schließlich seine Flügel ausbreitete und davon flog. Sehnsüchtig sah das Mädchen dem kleinen Vogel hinterher. Wie gern wäre sie jetzt an seiner Stelle. Einfach frei sein, den Wind in den Haaren spüren, ohne Gedanken an den alltäglichen Stress. Einfach Leben, neue Orte entdecken, den Geruch von Feldern, Wiesen und Wäldern aufnehmen und nie wieder vergessen.
Doch stattdessen saß sie hier und konnte nichts riechen außer dem penetranten Geruch nach Schweiß und verbrauchter Luft. Sie spürte wie ihr Kopf anfing zu schmerzen und das einzige, an das sie denken konnte war, dass das wirklich der ungünstigste Moment war, um Kopfschmerzen zu bekommen. Das monotone Kratzen von Füllern und Kugelschreibern auf Papier war dabei nicht sonderlich hilfreich.
Frustriert seufzte sie und nahm ein Schluck aus der Wasserflasche, die sie sich bereitgestellt hatte, in der Hoffnung ihre Kopfschmerzen dadurch etwas eindämmen zu können. Obwohl sie wusste, dass es jetzt sowieso schon zu spät war. Aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie nur noch eine viertel Stunde Zeit hatte. Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen. Ihre Hände waren mit einem Mal schweißnass und sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht mehr richtig atmen. Sie spürte wie die Panik, die schon die letzten Wochen immer wieder versucht hatte auszubrechen, in ihr anstieg. Die Panik, die sie letzte Nacht kaum schlafen ließ und die eigentlich immer dann zum Vorschein kam, sobald sie in den letzten Jahren an diesen einen Tag gedacht hatte.
Durch ruhiges Atmen versuchte sie eine Panikattacke zu verhindern, doch es gelang ihr mehr schlecht, als recht. Ihr Herz schlug immer noch unnatürlich schnell und ihre Hände wollten einfach nicht aufhören zu schwitzen, auch wenn sie sie immer wieder an ihrer Hose abwischte. Es fiel ihr schwer den Kugelschreiber zu halten. Das Zittern ihrer Hände war dabei auch keine besonders große Hilfe.
Irgendwie gelang es ihr dann doch sich wieder auf die Blätter, die auf dem Tisch vor ihr lagen, zu konzentrieren. Sie hatte sich darauf vorbereitet! Sie konnte das alles! Immerhin hatte sie sich nicht zwölf Jahre lang durch die Schule gequält, um jetzt während ihrer letzten Prüfung die Nerven zu verlieren! Einfach nicht daran denken, was alles davon abhängt, was alles passiert könnte, wenn sie es nicht gut machen würde! Einfach konzentriert bleiben. Nur all das Wissen, das sich angehäuft hatte, so gut es ging wiedergeben. Wie ein Mantra wiederholte sie diese Sätze immer wieder in ihrem Kopf.
Noch einmal atmete sie tief ein und aus, bevor sie ihren Kugelschreiber auf das bereits vollgeschriebene Blatt setzte, um die letzte Aufgabe zu beenden. Die Buchstaben, die sie in aller Eile auf das Papier gekritzelt hatte, sahen für sie mehr nach Hieroglyphen aus, als nach der deutschen Sprache, aber zu mehr war sie in Moment einfach nicht in der Lage. Ihr Kopf tat immer noch fürchterlich weh und auch ihre Konzentration hatte sie fast vollkommen verlassen.
Trotzdem schaffte sie es irgendwie alles aufzuschreiben, was ihr zu dem Thema der Aufgabe einfiel. Fünf Minuten vor dem spätesten Abgabetermin war sie fertig. Fertig mit der Prüfung, aber auch mit ihren Nerven. Als sie ihren Aufgabenbogen abgab, warf der Lehrer ihr ein kleines, aufmunterndes Lächeln zu. Dieses erwiderte sie nur knapp. Alles was sie wollte, war den Raum so schnell wie möglich wieder zu verlassen.
Erst als sie auf dem Schulhof stand, wo bereits einige Leute aus ihrem Jahrgang standen, wurde ihr bewusst, was soeben passiert war. Sie hatte es geschafft! Ihre letzte Prüfung! Das letzte Mal in einem viel zu engen Raum mit all den anderen Schülern sitzen und sich durch die kaum lösbaren Aufgaben quälen. Das letzte Mal, diese Angst, das Abitur nicht zu bestehen, fühlen und daran fast zu verzweifeln. Das letzte Mal mit Furcht die Schule betreten und mit genau derselben auch wieder verlassen.
Es war vorbei. Egal was jetzt passieren würde, sie hatte es bis hierhin geschafft. Die vielen Stunden des Lernens und auch der Verzweiflung waren vorbei. Es hatte sich gelohnt. Egal was jetzt noch passieren würde, oder wie ihr Abitur am Ende aussehen würde. Es war vorbei. Denn auf das endgültige Ergebnis hatte sie jetzt keinen Einfluss mehr. Sie hatte ihr Bestes gegeben und jetzt musste sie nur noch warten, bis sie ihr Zeugnis in der Hand hielt und die Schule für immer verlassen konnte.
Sie hatte es endlich hinter sich.
Als sie zu ihren Freunden lief, um mit ihnen gemeinsam zu feiern, hörte sie einen Vogel zwitschern. Lächelnd drehte sie sich in Richtung der Eiche und dachte bei sich: „Ja, kleiner Vogel, du hast recht! Jetzt bin ich auch frei, genau wie du und kann mit meiner Zukunft machen, was ich möchte."
In diesem Moment fühlte sie sich unbeschreiblich glücklich. Es war, als wäre ihr eine riesige Last von den Schultern genommen worden. Es war, als wäre sie für einen kleinen, unbeschreiblichen Moment federleicht.
Genauso wie ihr gefiederter Freund, ein paar Meter weiter, auf der Eiche.