Ich verstehe vollkommen, Clarice.

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"Sagen Sie mir seinen Namen, Doktor!"
Clarice Starling saß mal wieder abends vor der Zelle von Dr. Hannibal Lecter. Buffalo Bill war immer noch fleißig am morden und langsam verlor die junge, angehende FBI-Agentin die Geduld mit dem inhaftierten, ehemaligen Psychiater. Es schien ihr, dass er sie die ganze Zeit austrickste. Langsam musste er mal mit der Sprache herausrücken! Es ging schließlich um das Leben von Senatorin Ruth Martins Tochter Catherine. Senatorin Martin war eine Frau, die man ungern warten ließ.
Clarice schüttelte verzweifelt den Kopf, als Dr. Lecter schwieg: "Hören Sie, Doktor - Wir müssen Catherine retten! Es geht um ihr Leben! Wenn Sie seinen Namen kennen, dann teilen Sie ihn mir bitte mit!" Er presste sich den Zeigefinger an die Lippen: "Sie wissen schon, dass Sie gerade ziemlich unhöflich werden, oder?", war alles, was er sagte. Clarice stand kurz vor dem Ausbruch. Aber sie wusste, wenn sie mit ihm kooperieren wollte, dann musste sie spätestens jetzt eine gute Miene zum bösen Spiel machen. So seufzte sie leise: "Bitte entschuldigen Sie, Doktor. Ich bin nur..." "Zeitlich etwas angespannt, ich verstehe.", beendete er ihren Satz. "Das ist nicht zu übersehen. Ihre Haare stehen an einigen Stellen postkoital ab und unter ihren hübschen Augen haben sich bereits die bekannten dunklen Schatten gebildet." Hatte er ihr gerade ein Kompliment zu ihren Augen gemacht? Sie musste sich verhört haben! Clarice vergrub das Gesicht in ihren Händen: "Dr. Lecter, was soll ich bloß tun?" "Unser kleiner Billy treibt Sie ja mächtig in den Wahnsinn, wie mir scheint... Aber ich bin Ihnen gern gefällig." Sie richtete sich auf, ebenso wie er. Er verkündete: "Sein Name lautet James Gumb." Auch wenn es ihr eigentlich verboten war, trat sie dicht an die Glasscheibe heran: "Danke, Dr. Lecter! Ich danke Ihnen so sehr!" Er lächelte, trat ebenfalls näher, lehnte sich lässig an das kühle Glas. Nun trennten die beiden nur noch diese zehn bis fünfzehn Zentimeter. Für eine kurze Zeit schwiegen beide, dann schließlich ergriff der Doktor wieder das Wort: "Quid pro quo, Clarice..." Oh nein. Sie hätte wissen müssen, dass so etwas noch kommt. Sie seufzte leise: "Was wollen Sie, Dr. Lecter?" Er neigte leicht den Kopf. Er wollte eigentlich nur eine Sache in diesem Moment. Aber wie konnte er sie denn erreichen? Trotz der körperlich momentan eher geringen Distanz war ihre geistliche doch eher Lichtjahre weit auseinander. Daran musste er dringend etwas ändern! Aber wie? Er setzte an: "Es wäre schön, wenn wir..." Clarice unterbrach ihn hektisch: "Könnten wir das ein anderes Mal klären, Doktor? Ich muss jetzt einen Mörder fangen!" Der Doktor blinzelte kurz, dann nickte er: "Ich verstehe schon. Also - Auf Wiedersehen, Clarice. Kommen Sie bald wieder." Während sie bereits weglief, rief sie über die Schulter: "Bestimmt. Auf Wiedersehen, Dr. Lecter..." Er ließ sich auf dem am Boden angeschraubten Stuhl nieder und seufzte. Die junge Frau hatte bereits jetzt sein Interesse geweckt. Wie sie wohl erst auf sein Angebot reagieren würde?

Ein paar Tage später...

"Wie ich lesen durfte, sind Sie jetzt die Karriereleiter aufgestiegen, Clarice. Meinen Glückwunsch."
Wie sie ihm versprochen hatte, war Clarice noch einmal in die Anstalt gefahren, um Dr. Lecter zu besuchen. Nun saßen sie, getrennt durch die Glasscheibe, da und redeten über den mittlerweile abgeschlossenen Fall "Buffalo Bill". Der Doktor fragte: "Wie geht es der kleinen Catherine?" Clarice stutzte: "Interessiert Sie das wirklich, Doktor?" "Möglich wäre es. Immerhin habe ich zu ihrer Rettung beigetragen. Das habe ich doch, oder, Clarice?" Sie senkte leicht den Kopf: "Ja. Auch wenn ich erst das Gefühl hatte, dass Sie mir gar nicht helfen wollten..." Er grinste: "Alles reine Taktik, Clarice." Nun schien sie verwirrt: "Wie muss ich denn das jetzt verstehen?" Er richtete sich langsam auf und blickte zur Decke: "Ich bin jetzt seit acht Jahren in diesem Raum hier, Clarice. Ich weiß, dass sie mich nie mehr hier herauslassen werden, solange ich am Leben bin. Was ich möchte, ist eine Aussicht... Können Sie mir folgen?" Clarice richtete sich ebenfalls auf: "Ja, das kann ich... irgendwie..." Tatsächlich keimte in ihr ein gewissen Gefühl auf. Je länger sie den Doktor so vor sich stehen sah, mit diesem sehnsüchtigen Funkeln in den Augen, desto mehr wuchs Mitleid in ihr. Sie verspürte tatsächlich Mitleid mit dem genialen Kannibalen vor sich. Sie verstand zwar nicht, was genau der Auslöser dafür war, doch es brauchte sie auch nicht weiter zu kümmern, war hier doch der einzige Platz, an dem er niemandem etwas tun konnte.
Der Doktor musterte Clarice. Anscheinend hatte er sie etwas gefragt: "Hören Sie mir überhaupt zu?" Die junge Profilerin schüttelte kurz den Kopf: "Wie bitte?" Dr. Lecter seufzte leise auf: "Ich habe erwähnt, dass Sie mir ja noch einen gewissen kleinen Gefallen schulden. Quid pro quo, erinnern Sie sich?" Clarice runzelte die Stirn: "Und was wollen Sie?" Er begann, in seiner Zelle auf und ab zu spazieren. Dabei setzte er einen mehr als nur unschuldigen Blick auf: "Ich habe erst letztens von einem Straftäter gelesen, welcher seine Zelle direkt bei einer - Was war sie noch gleich? - FBI-Agentin Zuhause bekam. Wissen Sie, der Gedanke reizt mich schon ein bisschen..." Clarice riss die Augen auf. Hatte sie sich eben verhört? Sie hoffte es: "Was... wollen Sie, Dr. Lecter?" Er grinste: "Meine Aussicht." "... Bei mir?!" "Warum denn nicht?" Sie zuckte mit den Schultern: "Nun ja... ich denke nicht, dass das eine so gute Idee ist." Schließlich setzte er sich wieder: "Das denken Sie, weil Sie befürchten, dass man noch sagen wird, wir seien verliebt. Ist es nicht so?" Nun war sie diejenige, die hin und her ging. Sie schien tatsächlich mit dem Gedanken zu spielen, das sah der geniale Doktor ihr sofort an: "Wir würden das nie durchgesetzt bekommen...", murmelte Clarice. Dr. Lecter grinste: "Wenn man die richtigen Argumente verwendet, schon." Sie sah ihm in die funkelnden Augen. Es dauerte nur einen winzigen Moment und sie hatte sich bereits in ihnen verloren. Je öfter Clarice Dr. Lecter besuchte, desto mehr zog er sie in seinen Bann. Sie sträubte sich zwar, wehrte sich dagegen, so gut sie konnte, jedoch würde das irgendwann nicht mehr reichen. Sie wusste, dass sie sich dem früher oder später hingeben würde. Sie hatte sich schon letztes Mal eingestehen müssen, dass er sie sehr interessierte. Sie träumte regelmäßig von ihm und wenn sie sich gegen ihren Willen erinnerte, hatte sie auch schon einmal davon geträumt, eine Zelle für ihn bei sich in der Wohnung zu haben. Allerdings war es nicht bei der Zelle geblieben, nein. Immer, wenn sie allein waren, hatte Clarice ihn herausgelassen. Sie hatten geredet und gelacht und... Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie durfte diesen Gedanken nun nicht fortführen!
Sie wendete sich dem Doktor zu, der sie die ganze Zeit in seiner Seelenruhe beobachtet hatte. Natürlich war es ihm sofort aufgefallen, dass ein winziges Lächeln ihre Mundwinkel geziert hatte und rosane Flecken sich auf ihrem Gesicht ausgebreitet hatten. Er neigte leicht den Kopf, drohte, sich ihr komplett hinzugeben. Ach was sollte es! Sie war der Hauptinhalt seiner Träume - auch im wachen Zustand. Er brauchte nur die Augen zu schließen und sie war da. Warum genierte er sich eigentlich so für seine Gefühle, hatte er sie doch erst gestern Abend Barney offenbart. Dieser hatte ihm zwar davon abgeraten, doch Dr. Lecter war nun einmal ein Mann, der ungern seine Träume aufgab! Sehr ungern!
Er presste den Zeigefinger an die geschürzten Lippen. Wie konnte er sie bloß überzeugen? Er schlug vor: "Ich könnte Ihnen bei so manchen Fällen helfen..." Clarice seufzte. Sie wollte etwas anderes: "Doktor, wir wissen beide, Sie und auch ich, dass das zur Nebensache werden würde." "So? Und was wäre die Hauptsache, Clarice?" "Dass ich Sie, wenn wir allein sind aus der Zelle herauslasse und wir..." Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Das wollte sie nie sagen! Der Doktor lehnte sich grinsend zurück: "Aha... Träumen Sie, Clarice?" Sie nickte geistesabwesend. Er murmelte: "Das verstehe ich..." Clarice erwachte, schüttelte kurz den Kopf und sagte: "Nein, das geht einfach nicht! Ich gehöre zum FBI und Sie gehören... hierher." Es schmerzte sie sehr, das auszusprechen. Doch sie musste realistisch bleiben. So sehr sie es sich auch wünschte, es gab einfach keine Zukunft mit dem Doktor.
Dieser widersprach: "Das können Sie erst behaupten, wenn Sie es versucht haben." Clarice stöhnte leise auf. Der Mann ließ einfach nicht locker! Sie fragte: "Warum sind Sie bloß so versessen darauf, bei mir "einzuziehen"? Was bringt Ihnen das?" Er stand auf und kam ihr so nahe, wie es ihm möglich war: "Meine Aussicht..." "Kommen Sie, Doktor, das kann doch nicht der einzige Grund sein!" Er hob die Hand: "Lassen Sie mich ausreden! Meine Aussicht... auf den Traum einer Frau, wie sie nur sehr schwer und sehr selten zu finden ist..." Clarice fiel die Kinnlade herunter. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Bestimmt, denn er grinste breit, schien amüsiert über ihre Reaktion. Er legte herausfordernd seine Hand auf das Glas: "Also, wollen Sie es nicht wenigstens versuchen? Mir zuliebe? Sie schulden mir noch was..." Clarice gab auf. Sie nickte und legte ihre Hand auf die Stelle, wo er seine hatte: "Ich werde es versuchen, aber seien Sie bitte nicht allzu enttäuscht, wenn es nicht funktioniert." Er neigte leicht den Kopf: "Keine Sorge, Clarice - Ich verstehe vollkommen." Sie nickte: "Gut, dann gehe ich mich mal um Ihren Umzug kümmern. Vielleicht funktioniert es ja doch..." Während sie ging, rief er ihr noch hinterher: "Wunder gibt es immer wieder, Clarice." Sie war weg und er strahlte förmlich aus sämtlichen Poren.

Drei Monate später...

"Dr. Lecter? Ich bin zurück..."
Clarice brachte die Einkaufstüten in die Küche und lief danach ins Wohnzimmer. Sie konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass es tatsächlich funktioniert hatte!
Der Doktor saß seelenruhig in dem Kasten mitten im Raum und sah von seiner Lektüre auf: "Die Freuden des Kochens - Solltest du auch mal lesen, Clarice." Es gefiel ihr, dass er sie duzte. Sie hatte lange mit ihm darüber diskutiert, als er bei ihr "eingezogen" war. Es war ein Wunder, dass er nachgegeben hatte!
Sie setzte sich auf den Stuhl: "Tatsächlich? Ich habe es doch nicht so mit dem Kochen, Doktor..." Er legte das Buch weg und stand auf: "Du sollst mich doch beim Vornamen ansprechen! Quid pro quo, weißt du noch?" Sie grinste triumphierend, hielt klimpernd einen Schlüssel in die Höhe und erwiderte: "Möchten Sie heraus? Dann spielen wir nach meinen Regeln..." Er kam dicht an das Gitter: "Sind das etwa Drohungen, Clarice?" "Nein, nur Feststellungen." Er grinste: "Nun mach' schon auf..." "Nein, Sie werden unhöflich! Ich habe das entscheidende Wort nicht gehört..." Sein Grinsen wurde zynischer: "Clarice... Vorsichtig... Treibe es nicht zu weit! Du scheinst immer zu vergessen, wen du hier vor dir hast..." Sie liebte es inzwischen, mit ihm zu spielen. Fast so sehr, wie sie mittlerweile ihn selbst liebte. Ja, sie hatte sich damit abgefunden, spätestens, als er ihr eines Abends seine Gefühle anvertraut hatte. An jenem Abend hatte sie ihn zum ersten Mal herausgelassen - und dies keine einzige Sekunde bereut: "Also gut, Sie haben mich überzeugt..." Seufzend stand sie auf und öffnete die Gittertür. Der Doktor stürzte gleich vor, drückte Clarice gegen eine Wand und grinste. Sie hatte kaum noch Angst vor ihm: "Oh, Clarice... Du warst sehr unvorsichtig..." Sie reckte ihm trotzig das Kinn entgegen: "Nein, war ich nicht. Du wirst mir nicht weh tun, dazu bist du gar nicht imstande! Zitat von einem gewissen Dr. Hannibal Lecter..." Er legte seine Lippen auf ihre und sie verstummte. Es war gut gewesen, was sie getan hatte. Zumindest fühlte es sich gut an.
Und Hannibal? Der war überglücklich. Zwar bedruckte ihn immer noch seine eingeschränkte Freiheit, aber Clarice... Ja, seine Clarice machte es erträglich! Er liebte sie, das musste er feststellen - Und ihr einmal sagen: "Clarice?", murmelte er, als sie sich an ihn drückte und die Augen schloss: "Ja, Hannibal?" Er lächelte: "Ich liebe dich." ...

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