"Hmm... Schmeckt irgendwie zäh. Kein Wunder, das war aber auch wirklich ein zäher Bursche."
Hannibal Lecter saß in dem kleinen Esszimmer und schob sich eine Gabel mit Fleisch in den Mund. Er wollte es sich eigentlich genüsslich auf der Zunge zergehen lassen, doch es war sehnig und zäh. So hatte er sich den Abend nicht vorgestellt! Ganz bestimmt nicht!
Das Fleisch gehörte keinem geringeren als Dr. Frederick Chilton. Hannibal lehnte sich zurück und ließ seine Tat noch einmal Revue passieren...Es war komplett durchgeplant. Gerade noch hatte ich mit Clarice Starling telefoniert, da konnte ich auch schon ein mir sehr vertrautes, panisch aussehendes Gesicht ausmachen. Dr. Chilton stieg aus dem Flugzeug. Wollte er sich etwa vor mir verstecken? Dieser arme, unwissende Mann. Er konnte einem richtig Leid tun! Aber mir nicht. Ich habe ihm auch nie Leid getan, wenn er mich versucht hat zu quälen.
Dr. Chilton sah sich hektisch um: "Ich hoffe doch sehr, Sie haben hier hohe Sicherheitsstandarts. Da lege ich großen Wert drauf!" Der Mann neben ihm nickte: "Es wird Ihnen nichts passieren, Sir. Keine Sorge." Ich schüttelte den Kopf: "Wir werden sehen, mein Lieber." Ich setzte mir den Hut auf und zog ihn tief ins Gesicht. Er sollte mich nicht frühzeitig erkennen, das würde die Überraschung verderben.
Langsam erhob ich mich und ging ihm hinterher, einen gewissen Abstand einhaltend. Mit der rechten Hand hielt ich meinen Hut, der abendliche Wind fegte durch die Palmen. Eigentlich ein recht schöner Anblick, gepaart mit der untergehenden Sonne. Das musste ich mir in den kommenden Abenden noch einmal genauer ansehen!
Dr. Chilton sah sich immer noch panisch um, wurde von einer kleinen Menschenmenge mitgerissen. Ich mischte mich dort unbemerkt herein, kam ihm immer näher. Ich konnte einfach nicht umhin, mir das Grinsen zu verkneifen als ich mir ausmalte, wie ich ihn filetierte. Das würde noch ein amüsanter Abend werden!
Nach einiger Zeit kamen wir bei einer kleinen Wohnung an. Die äußerliche Fassade des Hauses wirkte trocken und spröde, total leblos und heruntergekommen. Ich fragte mich, was Dr. Chilton daran gefallen konnte. Ich muss zugeben, ich wusste bereits, dass sein Leben recht geschmacklos sein würde. Aber so etwas hatte ich dann doch nicht erwartet. An einigen Stellen war der Backstein abgeplatzt, Risse durchzogen die Mauern. In einem der oberen Fenster war ein Loch. Wirklich ziemlich heruntergekommen. Es gefiel mir überhaupt nicht. Zum Glück musste ich hier nicht wohnen. Da war mir sogar die Zelle in Baltimore lieber!
Dr. Chilton betrachtete ebenfalls kurz sein Heim, seufzte kopfschüttelnd und trat ein. Ich horchte - er schloss nicht ab. Obwohl er solche Angst hatte, schloss er einfach nicht ab. Erwartete er jemanden? Erwartete er mich? Vielleicht.
Ich wartete, bis die Menschenmenge verschwunden war, dann ging ich zur Tür. Ich legte meine Hand auf die Klinke. Nein, dachte ich. Es ist unhöflich, einfach in fremde Häuser einzudringen! Und ich werde mich ganz bestimmt nicht auf Dr. Chiltons Niveau herabsetzen! So stand ich da und klopfte. Irgendwie war das nun doch nicht so geplant. Aber es macht die Sache interessanter. Improvisieren im Allgemeinen machte das Leben interessanter, wie ich fand.
Er öffnete gähnend die Tür: "Was zur Hölle wollen Sie um diese Uhrzeit...?" Er erkannte mich - und erschrak. Ich lächelte ihn an: "Guten Abend, Dr. Chilton. Ich wollte Sie nicht stören, dachte mir aber, es wäre nett, Sie hier zu empfangen. Sagen Sie mir: Wie geht es Barney? Und hatten Sie eine entspannte Reise?" Er stand einfach nur da, starrte mich schockiert an. Ich roch seine Angst und erkannte sie auf seiner Stirn. Die Schweißperlen waren unverkennbar! Ich musste schmunzeln, dass mein Gegenüber sich so fürchtete. Dabei hatte er in Baltimore immer einen so mutigen Eindruck gemacht. Obwohl, wenn ich so darüber nachdachte - eigentlich hatte ich nichts anderes erwartet.
Er stand immer noch schweigend da, schien die Situation erst einmal verarbeiten zu müssen. Ich fragte: "Wollen Sie mich nicht hereinlassen?" "Er schüttelte den Kopf: "Kommen Sie mir nicht zu nahe, Sie Monster!" "Oh, jetzt werden Sie aber wieder sehr unhöflich! Was ist denn das für eine Begrüßung?" "Du hast nicht einmal eine verdient!" "Dr. Chilton, ich muss doch sehr bitten! Ich kann mich nicht entsinnen, Ihnen das Du angeboten zu haben. Aber wenn Sie sich dadurch besser fühlen, dann kann ich wohl eine Ausnahme machen." "Was... Was willst du von mir, Hannibal?!" Ich grinste: "Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Schulden begleichen, Dr. Chilton." Er sah mich fragend an: "Ich habe mir nichts zu schulden kommen lassen!" "Das wage ich zu bezweifeln. Sie schulden mir ganze acht Jahre, in denen Sie mich regelmäßig bestraft haben - für Lappalien. Und Sie schulden mir acht Jahre Spannung." "Wie habe ich denn das jetzt zu verstehen?" "Noch nie war ich so gelangweilt." "Und was ist mit der kleinen Starling? Fandest du die nicht interessant? Komm, sei ehrlich, Hannibal! Du bist auch nur ein Mann!" Er grinste schmierig. Das klassische "Chilton-Lächeln". Nichts verabscheute ich mehr! Ich entgegnete kühl: "Mit der Ausnahme, dass ich meinen Körper im Griff habe." "Mag sein. Wie gesagt: Ich habe mir nichts zu schulden kommen lassen. Du bist selber Schuld, dass ich dich bestrafen musste." "Sie fanden es sehr amüsant!" "Das ist nicht wahr!" "Lügen Sie mich nicht an, Dr. Chilton! Ich merke es sofort, wenn ich angelogen werde!" Ihm wich die Farbe aus dem Gesicht. Ich grinste: "Ich glaube, nun verstehen wir uns." Ich hielt ihm die Hand hin: "Versöhnung?", fragte ich im säuselnden Ton, musste das Grinsen unterdrücken. Zaghaft schob Dr. Chilton seine Hand näher zu meiner, ergriff diese schließlich ganz leicht. Doch ich packte zu, zog Dr. Chilton an mich und drängte ihn danach in seine Wohnung.
Drinnen roch es nach Staub und Einsamkeit. Ich kannte den Geruch der Einsamkeit in und auswendig, da ich ihn acht Jahre lang in der Nase hatte. Dr. Chilton versuchte sich zu wehren, doch durch seine Müdigkeit war er noch schwächer als ich gedacht hatte. Es war mir ein leichtes, ihn gegen eine Wand zu drücken. Er zitterte, ich grinste triumphierend: "Nach all den Jahren scheinen Sie mich immer noch nicht zu kennen, Dr. Chilton. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet, müssen Sie wissen. Ich hatte verschiedene Szenarien dieses Abends im Kopf - Hauptsächlich dann, wenn meine Zelle wie leer gefegt war, weil Sie der Meinung waren, mich mal wieder "bestrafen zu müssen". Aber nicht mit mir, Dr. Chilton. Das lasse ich mir nicht länger mehr gefallen!" Er sah mich an: "Du bist selber Schuld." Das war alles, was er noch sagte. Ich zückte mein kleines Taschenmesser und hielt es ihm an den Hals. Er biss die Zähne zusammen. Ich neigte leicht den Kopf und lächelte: "Aber, aber, Dr. Chilton. Haben Sie keine Angst. Es wird sehr schnell vorbei sein. Ich verspreche es Ihnen! Und ich halte meine Versprechen!" Für einen kurzen Moment kam mir wieder Clarice in den Sinn. Würde ich es wirklich schaffen, sie nicht aufzusuchen? Sie war einzigartig! Sie war faszinierend und interessant! Und ich bekam das ungute Gefühl, dass ich mein Versprechen ihr gegenüber nicht halten konnte. Doch damit musste ich mich irgendwann anders auseinandersetzen. Jetzt war erst einmal Dr. Chilton dran.
Er hatte die Augen fest geschlossen, schluckte mehrmals - er schien auf die Erlösung zu warten. Ich überlegte. Wollte ich ihn nicht noch etwas fragen? Oh ja, mir kam eine wichtige Frage in den Sinn: "Dr. Chilton, mich würde interessieren, welches Ihrer Organe Sie mir für mein Abendessen vorschlagen." Er sah mich schockiert an: "Wie bitte?!" "Nun ja, ich bin gerade etwas unschlüssig. Deshalb frage ich dieses eine Mal nach Ihrer Meinung." Tränen liefen ihm stetig über das Gesicht: "... Leber ...", wimmerte er. Ich hob beide Augenbrauen: "Sicher?" Er nickte kaum merklich, zuckte, als sich dadurch die kalte silberne Klinge leicht in sein Fleisch drückte. Ich lächelte: "Dr. Chilton, Sie sind selber schuld! Sie waren sehr unhöflich und ich hasse unhöfliche Menschen!" Dann ließ ich die Klinge quer über seinen Hals fahren - und einige Tropfen seines Blutes färbten meinen weißen Anzug minimal rot. Ich gebe zu, es war eigentlich nicht mein Anzug, aber darum ging es in diesem Moment nicht. Ich wischte mir einige Spritzer aus dem Gesicht und sah Dr. Chilton dabei zu, wie er gurgelnd zu Boden sackte. Ich grinste und zog ihn dann an den Armen in die Küche. Dabei hinterließ ich eine Blutspur, doch es kümmerte mich überhaupt nicht. Ich konzentrierte mich nun allein auf das Kochen...Dr. Lecters Blick wanderte zu dem Toten zu seiner linken. Er hatte Dr. Chilton auf dem Stuhl neben sich drapiert und betrachtete ihn eine Weile: "Also, ich muss schon sagen, Dr. Chilton - Ich hatte größere Erwartungen von Ihrem Fleisch! Es ist zäh und sehnig!" Er nippte an dem Glas Wein und erschauderte: "Herrje, was trinken Sie nur für einen Wein? Der schmeckt grauenhaft! Aber immerhin besser als nichts..." Er neigte den Kopf und hob das Glas: "Prosit, Dr. Chilton. Auf ein schönes Leben!" Er trank - und dachte an Clarice. Ihr Leben... Er wollte daran teilhaben! Er wollte sich vergewissern, dass die Lämmer endlich schwiegen. Plötzlich grinste er: "Eines meiner Lämmer wurde gerade zum Schweigen gebracht. Und es werden mit Sicherheit noch einige folgen! Was denken Sie, Clarice, vielleicht bringe ich ja irgendwann auch einmal Ihre Lämmer zum Schweigen?" Mit diesen Worten schlang er den letzten Rest des Fleisches herunter und verließ Dr. Chiltons Wohnung. Er fühlte sich wesentlich besser, sah sichtlich entspannter aus. Sie würden ihn erst finden, wenn Dr. Lecter bereits wieder das Land verlassen hatte! Da war er sich sicher!
Er schlenderte die Straße entlang zu dem Hotel, in das er sich unter falschem Namen eingemietet hatte: "Nun habe ich doch Pläne, Sie aufzusuchen, Clarice. Verzeihen Sie mir..."
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"Und ich halte meine Versprechen."
FanfictionEgal, ob indirekte Versprechen oder direkte - ein kurzer OS. Ich hoffe, ihr habt Freude beim Lesen...