Xenia saß einsam und verlassen auf dem Bordstein einer dunklen Straße der riesigen Stadt. Es ging auf die Mitternacht zu und obwohl die Stadt ungewöhnlicher weise einer einzigen Partymeile glich, war diese eine Straße tatsächlich ruhig und einsam. Sie hatte die lauten Bässe und grellen Lichter ohnehin nicht mehr ausgehalten. Sie bereiteten ihr Kopfschmerzen an einem besonderen Punkt hinter der linken Augenbraue und gaben ihr das Gefühl, dass sie ganz und gar nicht hier her gehörte.
Der Gedanke an ihre Schulkameradinnen beschlich sie. Anita war mit einem Typen, der Ronaldo glich und einen starken spanischen Akzent hatte stark küssend auf der dreckigen Clubtoilette verschwunden. Und Alicia und Samy hatte sie im Gedränge der Tanzfläche verloren. Sie hatten aber auch gar nicht den Anschein gemacht, als würden sie noch gerne mehr Zeit mit Xenia verbringen.
Sie seufzte laut und enttäuscht. Es war ja auf keinen Fall so gewesen, dass sie sie angefleht hatte sie in den Club mitkommen zu lassen. Nein, Xenia hatte überhaupt keine Lust auf eine Partynacht gehabt und sie hatten sie überredet. „Komm schon, Xenia. Du willst doch nicht etwa hierbleiben. Du musst echt mal runterkommen und Party machen!", hörte sie ihre aufgeregten Stimmen durch ihr gemeinsames Zimmer in der Jugendherberge schallen. Sie alle hatten sich tonnenweise Liedschatten und dunkelroten Lippenstift draufgeklatscht, während Xenia selber noch nicht einmal dran gedacht etwas anderes als Jogginghosen und Jeans einzupacken. Aber weil selbst ihre 50 Jahre alte Lehrerin Frau Richter, beschlossen hatte in dieser Nacht auszugehen, hatte Xenia schlussendlich zugestimmt. Ganz alleine in der Herberge bleiben wollte sie dann doch auch nicht. Und nun saß sie hier, bereute dass sie sich so entschieden hatte mitgegangen war und hatte keine Ahnung wo sie war und was sie machen sollte. Nervös starrte sie auf ihre Finger. Sollte sie Alicia oder gar Frau Richter anrufen und sich als Langweilerin abstempeln lassen oder erneut versuchen, den Weg in die stinkende Jugendherberge alleine zu finden? Sie blickte auf in die Sterne, aber auch diese schienen ihr keine Antwort zu geben. Laut atmete sie aus und dachte an die kommende Zeit.
Xenia war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie nicht merkte, dass sich ihr von vorne eine dunkle Gestalt näherte und geradewegs auf sie zukam. Ihr Alleinsein wurde jäh gestört.
„Dein Handy, bitte.", sagte die Gestalt, die sich als junger Mann entpuppte und verschränkte die Hände vor der breiten Brust. Das bitte betonte er eindeutig spöttisch und schaute auf sie herab. „Ähm was?", fragte sie, die aus ihren Gedanken gerissen wurde verwirrt, sah dann auf und erblickte ihn. Der Junge fing an zu grinsen, dann brachte er das lange, scharfe Messer, das er in seinem Ärmel verborgen hatte zum Vorschein.
Sie war verwirrt und ein Anflug von Angst machte sich in ihr breit. Sie ahnte schon, dass er nicht gekommen war um eine konstruktive Konversation mit ihr zu führen. Sie traute sich erst gar nicht sich zu bewegen, denn es war mehr als deutlich, dass er ihr körperlich überlegen war. Sie musterte ihn. Der Unbekannte war gut 1,80 groß, hatte dunkle Haare und Augen und einen leichten Bartansatz. Eigentlich ein attraktiver Kerl. Aber man merkte direkt, dass es einer von denen war, den man lieber aus dem Weg ging, wenn man kein Ärger wollte. Einer dieser typischen Großstadtkleinkriminellen, die entweder zu doof oder zu testosterongesteuert waren um über Konsequenzen nachzudenken. Dies machte diese Jungs besonders gefährlich und explosiv.
Er machte nun eine Bewegung mit dem Messer, die Xenia anscheinend dazu bringen sollte endlich zu reden. Und die Bewegung verfehlte ihre Wirkung nicht. „Tut mir leid...aber ich – ich komme nicht von hier.", gab Xenia zu. Leider ahnte sie schon, dass es den Typen nicht interessierte. Der Junge grinste breiter, so breit, dass man seine weißen Zähne erkennen konnte. „Ich weiß.", sagte er ehrlich und machte sich noch nicht einmal die Mühe zu lügen. „Deswegen sollst du mir ja auch dein Handy geben.", forderte er sie noch einmal auf. Er hatte natürlich sofort erkannt, was sie war. Sie war ein kleines Mädchen vom Dorf, das hier nicht am richtigen Platz war. Ein Mädchen, dass nicht die ungeschriebenen, aber dennoch eindeutig geltenden Regeln, die jedes Kind von hier tief in seiner Genetik stecken hatte, kannte.
„Was ist denn nun?", fragte er jetzt und seine Stimme wurde etwas lauter. „Ich kann dir mein Handy nicht geben.", flüsterte sie fast. „Ich nehm auch Bargeld.", erwiderte er frech. Langsam hatte er das Bedürfnis diese Aktion hier zu Ende bringen. Sie spürte die 5-Euro-Banknote in ihrer Hosentasche augenblicklich ganz genau. „Ich hab 'nen fünfi.", gab sie zu und sah ihm in die Augen. „Was ein Fuffi?", ging er sicher und zog eine Augenbraue hoch. „Nein, einen Fünfer", verbesserte sie ihn. Nun reichte es ihm endgültig. Er beugte sich plötzlich zu ihr runter um ihr dann in die Hosentasche an ihrem Oberschenkel zu fassen und dessen Inhalt an sich zu nehmen. „Hey!", protestierte sie und wollte nach seiner Hand greifen. „Hey, das macht man nicht!", rief sie schockiert in die Dunkelheit. Er musste leise lachen. „Aber jemanden ausrauben, das macht man, ja?", fragte er immer noch lachend. „Das habe ich nicht gesagt.", erwiderte sie und schmollte ein wenig. Das Gespräch verlief ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack. Sie zog ihre Beine näher zum Körper und hielt diese mit ihren Händen fest.
Der Junge setzte sich nun neben sie auf den lauwarmen Bordstein und breitete seine Hand aus um sein Diebesgut zu begutachten. Sie hatte erwartet, dass er nun wegrennen würde. Gemeinsam starrten sie auf den zerknüllten 5er-Schein in seiner großen Hand, die viele Narben zierten. Er machte große Augen. „ Tatsächlich 5 Euro? Ist das dein Ernst?", fragte er. Sie nickte nur. „Davon können wir uns noch nicht einmal jeweils einen Döner gönnen.", erzählte er und lachte schon wieder. Sein Lachen machte ihr Angst. Dann nahm er ihr Handy zwischen zwei Finger, als wäre es ein stinkendes Stück roher Fisch. „Scheiße verdammt! Scheiße, ist das ein verdammtes Nokiatastenhandy?", fragte er ungläubig, nachdem er noch nicht einmal fünf Sekunden auf ihr Handy gestarrt hatte. „Kann ja nicht jeder ein Smartphone haben.", murmelte Xenia. Sie hatte sich diesen Satz schon so oft anhören müssen. „Meine verdammte Oma hat das erste IPhonemodell.", erwiderte er. „Dann raub doch die aus.", meinte Xenia frech. Langsam war es ihr zu bunt, dass er über ihr treues Handy lachte. Der Jungs sah sie böse an und auf seiner Stirn bildeten sich viele Falten. Doch lange hielt er es nicht durch sie böse anzugucken. Sie war zu naiv und auch irgendwie außergewöhnlich. Er lehnte sich auf dem Bordstein zurück und beobachtete die Mücken, die im Licht einer Straßenlaterne tanzten. Das Handy und das Geld legte er neben die beiden auf den Bordstein, das Messer hatte er längst wieder verstaut. „Ich kann verstehen, dass du es dir leisten kannst hier mitten in der Nacht rumzusitzen.", sprach er nun ganz ehrlich und steckte sich eine Zigarette an. „Du hast ja gar nicht, was man dir abnehmen kann.", fuhr er fort und blies eine mächtige Rauchwolke aus. „Also ist dieser Raub jetzt beendet?", fragte sie hoffnungsvoll. Erneut musste er grinsen. „Nein, ich hatte heute Nacht noch vor jemanden zu vergewaltigen.", sagte er schulterzuckend. Ein plötzliches Adrenalingefühl überkam Xenia. Meinte er das Ernst? Er sah sie aus dem Augenwinkel an. Panik spiegelte sich in ihren Augen. „War ein Scherz.", sagte er dann. „Ich kann ohnehin so viele Weiber haben, wie ich will.", erklärte er ihr arrogant, aber Xenia fühlte sich immer noch mulmig, Es war keine Frage, dass die Person vor ihr gefährlich war. Er bemerkte deutlich, dass sie Angst hatte. „Mach dir keine Sorgen. Ich tu dir nicht. Hab für heute genug erlebt.", seufzte er und steckte ihr anschließend seine Hand hin. „Erich", stellte er sich mit seiner tiefen Stimme vor. „Xenia.", sagte Xenia und ergriff seine Hand. Sie hatte weiche Hände und einen festen Händedruck. Das gefiel Erich. „ Wie gesagt, ich hab für diese Nacht echt genug gesehen.", sagte Erich und stand auf. Die Zigarette schmiss er auf den Bordstein. „Lass uns von dem Geld ein Sixpack Bier und einen Döner holen.", schlug er vor. Kommst du mit? Ich zeig dir heute Nacht die große, unbekannte Stadt!" „Okay.", willigte Xenia ein und ließ sich von ihm hochziehen. Es war keine Frage, dass Erichs Angebot gefährlich aber gleichzeitig so verlockend war. Ihre Mädels feierten und hatten sie vergessen? Okay, dann würde auch sie diese Nacht ein Abenteuer erleben.
„Typisch sind die Spätis. Die Spätkäufe.", erklärte Erich während sie durch die Straßen zogen. Und er hatte Recht, es dauerte keine Minute bis sie an einen sogenannten Späti mit arabischen Verkäufer stießen, aus dem Erich ein paar Dosen Bier holte. Anschließend ging es in einen Dönerladen, der genau neben dem Späti stand. Die Wartezeit war lang und der Dönerladen randvoll. Einige Feierwütige hatten offensichtlich spontan Hunger bekommen und standen nun alkoholisiert in der Dönerbude.
Erich tippte nervös mit seinen Fingern auf die Theke. „Was machst du überhaupt hier?", fragte Erich dann. „Ich bin auf LK-Fahrt.", erkläre ich ihm. Er lächelte plötzlich. „Dann hab ich also ein besonders schlaues Mädchen vor mir, richtig?", fragte er und machte einen leichten Knix. „Bin kurz davor zu schmeißen.", war alles was sie trocken sagte. „Das habe ich auch getan", gab Erich zu. Sie schluckte „Nur, dass ich da in der Neunten war.", fügte er ebenso trocken und ehrlich hinzu. Xenia musste ihre Frage gar nicht aussprechen, er wusste, was sie wissen wollte. „Mein Lehrer war ein Arschloch", erklärte er. „Naja, besser gesagt das komplette Lehrerkollegium bestand aus Arschlöcher.", verbesserte er sich peinlich berührt. Es war offensichtlich, dass er extra auf die Speisekarte, die hoch über hing schaute, obwohl er schon längst einen scharfen Döner bestellt hatte.
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Kurzgeschichten
Romance"Kommst du mit? Ich zeig dir heute Nacht die große, unbekannte Stadt." "Dann hab ich also ein besonders schlaues Mädchen vor mir, richtig?" "Bin kurz davor zu schmeißen." "Das hab ich auch getan. Nur dass ich da in der Neunte war."