Die Stille war überwältigend.
Einem Außenstehenden hätte wohl das Keuchen der letzten Verwundeten in den Ohren gedröhnt, das atemberaubende Pfeifen des Windes und das Klirren von gläsernen Seelen, die mit einem letzten, endgültigen Schlag auf dem verdreckten Boden zersprangen. Das Sirren der Mücken und das Rauschen der Rettungsflugzeuge boten dazu eine penetrante Hintergrundmusik.
Und doch war da diese Stille.
Als er den Kopf unter gewaltigen Anstrengungen anhob, fiel ihm zuerst der blutende Himmel ins Auge. Burgunderrote Streifen zogen sich über den fernen Horizont. Die Silhouetten der fernen Rettungsflugzeuge hoben sich pechschwarz von dem bildgewaltigen Farbenschauspiel ab, dessen friedliche Schönheit so gar nicht zu dem düsteren Szenario unter sich passen wollte.Um ihn herum krümmten sich reglose Gestalten am Boden. Verknotete Leiber, verrenkte Gliedmaßen.
Mit dem letzten Quäntchen Hoffnung berührte er unsicher die Schulter des Mannes neben ihm. Das Zeichen auf seiner Uniform verriet ihm, dass er zu den Feinden gehörte.Es war ihm egal.
Keiner von ihnen kämpfte doch gegen die anderen. Man kämpfte gegen sich selbst, die tiefsten Abgründe des eigenen Bewusstseins... gegen die eigene Feigheit, die verhinderte, das man das Richtige tat.
Gab es denn den Feind?
Ja.
Er war da, tief in ihm, und fraß sich durch sein Fleisch. Monster, Monster, Monster.
Seine Hand umfasste den Knauf eines Degens. Orientierungslos zerrte er daran... es kostete ihn gewaltige Anstrengung, und als die Klinge mit einem satten, schlürfenden Geräusch aus dem Körper neben ihm fuhr, stieß ihm die Galle durch den Hals. Übelkeit ließ ihn umkippen, er landete auf etwas Starrem, Eiskaltem... ein weiterer Mann, diesmal einer aus seiner Heimat.
Amgeekelt krabbelte rückwärts, rammte den nächsten Körper- um ihn herum nichts als Tod, in dem Geruch der Luft, in den auf ewig erstarrten Augen seiner Kameraden; er haftete in seinen Kleidern und an seinen Händen, schnürte ihm die Luft ab, griff mit eiskalten Fingern nach seinen Gedanken und tauchte sie in Wahnsinn...
Auf seinen Degen gestützt, torkelte er los. Sein zerfetzter Stiefel verfing sich in Haaren, Gürteln und Taschen.
Alle tot. Alle tot.
Das Entsetzen nagelte sich in seinem Gesicht fest. Die alabasterfarbenen Gesichter, auf ewig das Grauen über die herannahenden Waffen in den festgefrorenen Mienen.Ja, es war kalt.
Tatsächlich.
Ein eisiger Wind strich über das Feld. Es war ein Getreideacker gewesen, in seinen Haaren hatten sich vereinzelte Ähren festgesetzt. Mit auf die Brust gedrücktem Kinn hielt er inne, keuchte; versuchte, den beständigen Moder irgendwie aus seinem Kopf zu bekommen...
Seine Beine versagten ihren Dienst. Zitternd klappten sie unter ihm zusammen.
Alle tot, oh Gott, alle tot, und ich... ich...
Sein eigener Atem dröhnte viel zu laut über das Todesfeld. Er stand in einem verdammten Grab, einem Grab- was mache ich hier noch?- Ich lebe- aber alle sind tot...Ihm blieb die Luft weg.
Er presste sich die Hand gegen die Magengegend. Sie war dreckverkrustet, dünne, leuchtend rote Fäden bahnten sich ihre Wege durch den Staub.
Fasziniert starrte er auf die winzigen Flüsschen. Irgendetwas drängte ihn dazu, sie zu berühren... er tippte mit der Fingerspitze in einen der Fäden und unterbrach dadurch den Lauf der Flüssigkeit. Das Rot auf der Fingerkuppe leuchtete im dämmrigen Licht beinahe schwarz.Er zitterte.
Dann hob er den blutgetränkten Finger an seine Stirn und zog ihn unerbittlich bis zum Kinn, eine vollkommene Linie schaffend... eine Linie aus seinem Lebenssaft.
Auch ich bin nicht mehr ganz. Gott, alle tot, ich nur unvollständig...
Ein krampfhafter Anfall schüttelte seinen gramgezeichneten Körper. Der Degen kippte nutzlos zur Seite weg, er rutschte langsam von dem Leichenhügel ab. Es klirrte, wenn er auf andere Waffen traf.Eine Krähe stieß nicht weit entfernt vom Himmel herab, ihre kreisenden Bewegungen vollführend. Eine Zeit lang fixierte er den Vogel... den mächtigen Schatten, schwärzer als der dunkelste unter den Gefallenen, und doch erstrahlte er in einem so viel helleren Licht als die anderen.
Einem helleren Licht als er selbst.Als er weiterstolperte, schienen sie mit knorrigen, dürren Armen nach ihm zu greifen, tückisch positionierte Gliedmaßen stellten plötzlich Stolperfallen dar. Sogar jetzt, nach ihrer aller Leben, war der Kampf nicht zu Ende. Und doch war er der einzige, der weiterhin eine lebendige Spur zog durch die Stätte der Wut, des Verrats, der Schmerzen.
Aber wohin?
Wohin sollte er?
Über das Schlachtfeld, Meile um Meile- tote Körper- aufgewühlt Gefühle- endlose Stille- ohne sichtbares Ziel?
Was sonst?
Was sonst.Ohne jeglichen Willen versagten seine Beine erneut, der Länge nach schlug er hin, gebettet auf einem Teppich aus Leichen.
Und zum ersten Mal seit langem vergrub er das Gesicht in den schmutzstarren Ärmeln und weinte.
