Mal wieder kein Geld

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"Was möchtest du trinken?", fragt mich der nette Kellner. Sein Bart ist mal wieder restlos wegrasiert, seine schwarzen Haare hat er perfekt mit Gel versehen. Ich tue so, als würde ich in der Karte stöbern und mich nicht entscheiden können, was ich trinken will. "Deine Freunde haben schon bestellt. Soll ich einfach gleich noch einmal wiederkommen, wenn ich deinen Freunden ihre Getränke bringe?" Er sah mich fragend an. Ich nicke schnell. Hauptsache er verschwindet jetzt erst einmal für ein paar Minuten und befreit mich somit aus dieser peinlichen Situation. Zum Glück merkt er mir nicht an, dass ich schon seit mehreren Tagen nichts mehr richtiges richtiges gegessen hatte.
"Louisa, was ich denn daran so schwer, sich für ein Getränk zu entscheiden? Der teure Champagner fällt für uns sowieso raus!" Einer meiner Kumpels sieht mich entgeistert an. Er hatte recht, die Champagnerflasche konnten wir tatsächlich nicht köpfen. Aber irgendwie habe ich mich an dieses Leben gewöhnt. Klar, am Anfang ist es mir schwer gefallen, aber wenn man Freunde hat, die dich unterstützen und sich mit dir zusammen durchschlagen, dann ist es doch gar nicht mehr so problematisch, auf der Straße zu leben und jeden Abend aufs Neue gucken zu müssen, wo man unterkommen kann.
"Verdammt, Jack, ich habe keinen Cent mehr in der Tasche! Am Ende des Tages habe ich gerade mal nen Euro in der Tasche, um mir einen Hamburger leisten zu können. Aber jeden Tag Mc Donalds? Naja, besser als nichts. Aber das Geld muss ich bis heute Abend aufbewahren. Das kann ich jetzt nicht wegen eines Getränks verplempern. Obwohl es hier mal ganz abgesehen davon keine Getränke unter 1,20 gibt." Ich sah ihm in seine braunen Augen. Mein Blick huschte schnell zu dem Kellner, der seelenruhig das Wasser für den nächsten Gast, den er bedienen wird, aus dem Kühlschrank holt. Dann ging ich mit meinem Kopf noch ein bisschen näher an Jack dran. "Aber das kann ich ja wohl kaum diesem Kellner sagen! So wie der aussieht, fährt der bestimmt mit nem BMW durch die Gegend und hat in der Garage den Porsche neben dem Maserati geparkt. Aber es tut mir wirklich leid, Herr Kellner, ich habe leider noch nicht einmal das Geld, um mir so ein billiges Wasser zu kaufen. Es tut mir wirklich leid. Ich hoffe, Sie können mich verstehen. Selbstverständlich werde ich meinen Freunden beim Trinken zu sehen und bei der nächstbesten Gelegenheit Ihr Café ein weiteres Mal aufsuchen! Und zum Schluss hätte ich freundlich lachen müssen!" Ich lachte gekünselt. "Der Typ hätte mich doch schallend ausgelacht!" Ich werfe ihm noch einen Blick zu. Ich sehe, wie er das Tablett nimmt und sich auf den Weg zu uns macht.
"Man, Lou, sag das doch! Komm, ich gebe dir die 1,20. Bei mir ist das Volk gestern spendabel gewesen, ich hab noch ein bisschen was übrig. Das ist doch blöd, wenn du jetzt hier einfach so herumsitzen musst!", sagt er. "Ich weiß, wie es ist, wenn man alle Menschen glücklich beim Essen und Trinken sieht, nur man selbst hat nicht genug Kleingeld, um sich nur eine kleine Flasche Wasser zu besorgen. Wenn man diesen Menschen dann auch noch dabei zusehen muss, wie sie trinken, dann wird der Wunsch, selbst ein Wasser zu haben, ganz schnell rießengroß. Ich möchte nicht, dass du durstig bist. Du weißt doch, hier auf der Straße hilft man sich gegenseitig! Nimm meine 1,20!" Jack beginnt in seiner Tasche nach dem Geld zu kramen. Ich kaue auf meiner Lippe. Es täte so gut, mal wieder etwas zu trinken zu bekommen, aber ich möchte auch niemandem auf der Tasche liegen. Ich weiß eben auch, wie es ist, wenn man kein Geld mehr hat.
Der Kellner stellt das Tablett auf dem Tisch ab und verteilt die Getränke. "Für die junge Dame!" Er lacht meine Freundin an. Marie flirtet schon wieder, denke ich schmunzelnd. Gut, sie sieht sicherlich nicht aus wie ein Supermodel - die Straße zeichnet jeden Obdachlosen - aber der Kellner weiß eben auch, wie er dafür sorgt, dass seine Gäste immer wieder dieses Café aufsuchen werden. Und Marie springt jedes Mal aufs Neue drauf an. Wir lassen ihr alle ihre Schäkereien. So kann sie immerhin für einen kurzen Moment vergessen, wie hart ihr noch so junges Leben eigentlich ist.
"Louisa, starr den Typen nicht so an, nur weil seine Augen so schön funkeln. Nimm jetzt meine 1,20 und sag ihm lieber, was du trinken willst, bevor er gleich wieder weg ist!" Jack drückt mir die zwei Münzen in die Hand.
"Das ist wirklich nett von dir, Jack. Aber es ist schon okay. Ich möchte keine Schulden bei dir haben. Ich werde es verkraften, wenn ich einmal vor euch sitze und nichts trinke!"
"Aber Lou, ich weiß doch, wie du dich fühlst. Denkst du, ich habe noch nie in deiner Lage gesteckt? Natürlich ist es peinlich, dem Kellner davon zu erzählen. Aber ich habe vollstes Verständnis dafür, dass es eben Tage gibt, an denen die Passanten nicht so spendabel waren. Dann fällt der Lohn eben mal nicht so gut aus. Deswegen schenke ich dir das Geld. Es ist okay so! Und jetzt geh zu dem Mann und bestell dir ein Wasser. Hör auf zu diskutieren! Ich sehe dir doch an, dass du gerade nur zu gerne an einem Wasserglas nippen würdest!", redet Jack auf mich ein.
"'Man, Jack, lass mich! Ja, ich weiß, dass du weißt, wie ich mich fühle! Aber ich weiß auch, wie es ist, wenn man um jeden Euro kämpfen muss. Auch bei dir regnet es Wasser vom Himmel und keine Münzen. Und du darfst nie vergessen, dass schon morgen bei dir eine Geldflaute einsetzen könnte. Und dann ist es gut, wenn du den Euro noch besitzt. Sonst wirst du es noch bereuen, ihn mir gegeben zu haben. Und jetzt hör du auf, zu diskutieren und nimm deine zwei Münzen zurück!" Ich atme tief durch. "Es ist okay. Wirklich!" Ich ziehe meinen Kopf wieder ein bisschen weiter von ihm zurück.
Er seufzt. "Du bist manchmal so stur, Louisa!"
"Ich bin nicht stur. Ich tue nur nicht so, als sei ich Millionär, nur weil heute einmal ein guter Tag ist!" Ich schnaube.
"Mein Gott. Es handelt sich um 1,20! Nicht um 3.000 Euro!" Er verdreht die Augen.
"Es ist okay. Glaub mir. Und jetzt genieße dein Getränk!"
Er seufzt wieder. "Aber vergiss nie, dass ich es nie bereuen würde, dir mein Geld zu geben. Das ist völliger Blödsinn. Auch wenn ich am nächsten Tag eine Flaute haben würde, nicht. Auf der Straße muss man zusammenhalten. Ansonsten hat man ganz schnell verloren. Das weißt du doch selbst! Außerdem hast du mir doch auch schon mal nen Euro geliehen. Da ist doch nix bei!"
Ich nicke nur. Wenn ich jetzt noch etwas sagen würde, würde die Diskussion noch stundenlang so weitergehen. Darauf habe ich keine Lust.
"Möchtest du jetzt etwas trinken?" Der Kellner wendet sich mir zu.
"Nein." Ich schüttle überzeugt mit dem Kopf.
Er nickt, nimmt sein Tablett und verschwindet zum Tresen.
Meine Freunde lassen sich alle ganz viel Zeit, ihr Getränk zu trinken. Niemand von uns hat einen besonders großen Drang, wieder auf die Straße zu gehen. Dort werden wir noch genug Zeit verbringen. Hier ist es immerhin schön warm und man hat eine gemütliche Bank zum Sitzen. Irgendwann hat man sich zwar auch an die Härte des Bordsteins gewöhnt, aber ich ziehe ihm eine warme Bank in einem Café immer noch vor. Wäre ja auch gestört, wenn ich das nicht tun würde. Aber ich könnte mir gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, ohne die tägliche Sorge, keinen Schlafplatz zu finden, zu leben. Die gehört zu mir wie zu den normalen Menschen ihr Haustürschlüssel. Wir unterhalten uns nicht, hängen alle unseren Gedanken nach. Bald würde der Abend beginnen, dann würde die Suche nach einem Schlafplatz beginnen. Wir sind hier zwar ein eingespieltes Team, aber die wenigen Plätze, die sich für die Nacht anbieten, sind hart umkämpft. Da muss jeder für sich alle sehen, dass er nicht auf dem Bürgersteig liegen muss. Egal, wie sehr man die anderen auch mag.
Ich beobachte den Kellner, wie er den Tresen abwischt. Manchmal wünsche ich mir, ich dürfte das machen. Dann hätte ich endlich das Geld, mir eine Wohnung leisten zu können und ich hätte wieder ein warmes Zuhause. Doch auf der anderen Seite bin ich auch froh, dass ich es nicht machen darf, denn ich habe ja überhaupt keinen Plan, was es heißt, einer geregelten Arbeit nachzugehen und jeden Morgen aufzustehen, wenn der Wecker klingelt. Ich kenne nicht das Gefühl, einen Haustürschlüssel im Schloss umzudrehen. Vielleicht ist es doch besser, wie es ist. Außerdem darf ich meine Clique auch nicht verlassen. Freunde, die dich unterstützen, sind das Wichtigste, wenn du auf der Straße lebst. Und ich bin jetzt nunmal ein Teil des Asphalts.
"Kommt, lasst uns gehen. Es wird Zeit, sich um einen Schlafplatz zu kümmern. Bald bricht der Abend an!", sagt Ben. Wir nicken. Er hebt die Hand, um den Kellner zu sich zu rufen. Alle bezahlen ihre Getränke. Wir erheben uns seufzend. Jetzt beginnt die härteste Zeit des Tages. Und das weiß jeder von uns.
Wir verlassen das Café.
"Louisa, ich wollte es eben nicht fragen, aber wieso hast du nichts getrunken?" Ben sah mich an.
"Mal wieder kein Geld", sage ich anteilnahmelos. Ich habe keine Lust, jetzt auch noch mit Ben darüber diskutieren zu müssen.
"Ich hätte dir das Geld doch gegeben!" Das ist sie - mein Straßenfamilie. Und das ist Ben, er kann es nicht haben, wenn er sieht, dass jemand noch nicht mal ein paar Cent hat. Das wenige, was er hat, will er immer teilen. Ich liebe ihn dafür, aber ich will mich auch nicht wie ein kleines Kind verhalten, das ständig bettelt. Es reicht, dass ich auf der Straße mit einem Becher auf einem Stück Pappe hocke. Da muss ich nicht auch noch bei meinen Freunden um Geld betteln. Sie haben schließlich selbst kaum etwas und sind darauf angewiesen, von den Passanten, die im Überfluss leben, ein paar Cent zu bekommen. Jeden Tag beginnt man mit der Hoffnung, dass es ein guter Tag wird und mit der Angst, dass keiner der Leute, die an einem vorbeilaufen, einen beachtet werden. Denn dann endet man ohne Geld. Und jeden Euro, den man ergattert, sollte man behandeln, als sei es Gold. Und ich will Ben nicht sein Gold wegnehmen.
"Aber wenn was ist, kannst immer zu mir kommen, okay, Kleine?" Ben legte seinen Arm um meine Schulter.
"Das weiß ich, Ben. Aber es ist alles in Ordnung. Jeder von uns muss kämpfen. Die Straße macht dich hart. Du musst kämpfen und auch ich muss es. Und auch mit Tagen, die kein Geld für mich übrig lassen, muss ich klar kommen. Morgen beginnt ein neuer Tag; eine neue Chance, Geld zu bekommen, um etwas zu trinken oder zu essen kaufen zu können. Es gibt auf der Straße eben gute und auch schlechte Tage. Man lernt, damit umzugehen. Das weißt du doch, Ben."
"Ja, klar, weiß ich das. Aber ich kann es einfach nicht haben, wenn ich sehe, dass manche von uns keinen Cent mehr in der Tasche haben. Du bist doch ein Teil meiner Familie. Wir halten zusammen. Das weißt du doch, Lou!" Er drückte mich ein bisschen an sich.
"Ja, das weiß ich, Ben. Aber es ist alles gut. Das habe ich Jack eben auch schon erklärt. Ich hab dich lieb, Großer!" Wir umarmten uns. Ben ist wie ein großer Bruder für mich. Er ist ein wichtiger Teil meines Straßenfamilie. Ich bin so froh, dass ich ihn habe.
"So, wir treffen uns morgen früh wieder hier am Bahnhof?", fragt Marie und bleibt stehen.
"Natürlich, das machen wir doch jeden Morgen! Oder hat irgendjemand in dieser Gruppe hier etwas dagegen?" Jack sieht sich lachend um.
"Nein, also ich nicht. Ben, du?" Ich lache.
"Nein, nein. Außer euch habe ich doch niemanden!" Er zertritt einen Ast, der vor seinen Füßen liegt.
"Na dann, kämpft um einen Platz, der euch eine warme Nacht beschert. Die Schlacht ist ein weiteres Mal eröffnet! Bis morgen, Freunde!", sagte Jack.
Wir klatschten uns alle einmal ab, dann trennten sich unsere Wege. Und der Kampf war eröffnet. Und wie jeden Abend weiß ich nicht, ob ich ihn gewinnen werde. Es gibt schließlich viele Leute, die einen warmen Schlafplatz wollen. Jetzt heißt es schnell sein.

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