Keira

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„Mist!", dachte Keira. Schon wieder spät dran. Sie hasste es zu spät zu kommen.

Dieser Moment wenn man als letzte in einen Raum kommt, alle Blicke auf sich gerichtet fühlt, bereitete ihr jedes Mal Unbehagen. Kein Mensch mochte dieses Gefühl – für sie jedoch war die Angst davor beobachtet zu werden, häufig genug schon ein ausreichender Grund gewesen, Unterricht zu schwänzen, Filmabende abzusagen und eben nicht bei den regelmäßig stattfindenden Trinkgelagen aufzutauchen, von denen ihre Klassenkameraden schwärmten. Sie fühlte sich in Gruppen nicht wohl – auch schon der geringste schräge Blick eines Mitmenschen, ließ ihr Kopfkino starten und führte unweigerlich dazu, dass sie etwas Seltsames tat oder sagte. Bisher hatte sie es nie geschafft, diese Angst zu überwinden. Ihre Sicherheit tauschte sie jedoch häufig gegen Einsamkeit. Ihre Klassenkameraden merkten meistens nicht einmal, ob sie anwesend war –niemals hätte sie jemandem gefehlt. Eric war die Ausnahme! Vor einem Jahr hatten sie sich kennen gelernt. Schnell hatte sich aus der anfänglichen Freundschaft mehr entwickelt. Erstaunt dachte sie immer wieder daran, dass Eric das absolute Gegenteil von ihr zu sein schien. Er war ein strahlender Stern inmitten jeder Gruppe, während sie sich in der Dunkelheit und in seinem Schatten am wohlsten fühlte.

Aber nun hatte ein neues Schuljahr angefangen. Keira hatte sich vorgenommen einen Neustart zu wagen. Verflucht, so konnte das nicht weitergehen! Sie war achtzehn Jahre alt und benahm sich, wie eine alte Rentnerin, die sich aufgrund von ihrer Arthritis nicht vor die Tür traute. Sie musste endlich ihre Scheu vor anderen Menschen überwinden und anfangen zu leben, hatte ihre Mutter gesagt. Immer und immer wieder, wenn Keira Samstagabends lieber hinter ihren Büchern verschwand, anstatt sich mit anderen Menschen zu treffen. In solchen Momenten fehlten selbst Eric die Argumente um sie vor die Tür zu locken.

„Alles sollte anders werden!", hatte die Schulleiterin Smith in ihrer Antrittsrede verkündet.

Zum neuen Schuljahr hin wurden die alten Klassenverbände aufgelöst und die Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen wurden in neu formierten Kursen unterrichtet. Ein frischer Wind sollte durch die staubigen Hallen der Schule wehen, um den nur allzu schlechten Ruf der Lincoln-High aufzubessern. Deswegen hatte man neue Leistungskurse gegründet, deswegen hatte man Kooperationen mit anderen Schulen geschlossen. So wimmelten nun in den Schulgängen dutzende Menschen orientierungslos von einem Ort zum anderen und wussten nicht wohin.

Lauter Menschen, die sie nicht kannte – ein Furcht einflößender Gedanke für Keira. Aber eben auch lauter Menschen, die sie nicht kannten - eine neue Chance. Keiner der Menschen, die sich hinter der Tür verbargen, vor der sie nun stand, wusste von ihren Fehlern, ihren Schwächen, diesem fast schon bemitleidenswerten Wunsch einfach nur dazugehören zu wollen.

„Nur Mut!", flüsterte sie sich selbst zu, während sie ihre dunklen, roten Locken in den Nacken warf, tief durchatmete und mit kalten, klammen Fingern den Türgriff umschloss.


RaupengeflüsterWhere stories live. Discover now