Er

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Ich ging über eine Brücke in den Wald. Es ist dunkel und schon spät gewesen. Seit ungefähr zwei Stunden hatte ich ihn gesucht, aber gefunden hatte ich ihn immernoch nicht. Wie vom Erdboden verschluckt ist er gewesen. Wen ich damals gesucht habe? Meinen Freund, oder eher gesagt Exfreund. Warum ich ihn suchte? Er hat gesehen, wie ich seinen besten Freund geküsst habe. Als ich ihm alles erklären wollte, ist er weggelaufen. Dann haben ihn alle gesucht, doch sie suchten am falschen Ort. Nur mir hat er einst die Stelle gezeigt, wo er hinging, wenn er traurig war oder einfach alleine sein wollte. Doch vor lauter Verzweiflung fand ich die Stelle zuerst nicht. Ich blieb stehen und habe eine kurze Pause gemacht, um mir wieder klar im Kopf zu werden. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Am Wegrand erklang das leise Wimmern. So schnell wie dieses ertönte, verschwand es auch wieder. Letztendlich hörte man nichts, ausgenommen meiner unregelmäßigen Atmung. Weil ich das komische Gefühl in meinem Bauch nicht loswurde, entschloss ich kurz darauf, weiter in den Wald und gleichzeitig dem Geräusch nachzugehen. Nach wenigen Metern sah ich jemanden auf dem Boden liegen. Als ich mich dem Körper näherte, erkannte ich die Person. Er, der den ich so lange gesucht hatte, lag dort und bewegt sich nicht mehr. Keine Atembewegungen, nichts war ihm mehr anzusehen. Ich lehnte mich langsam zu ihm, aber stockte sofort in der Bewegung. Ich realisierte, was geschah. Er lag da, tot, atmete nicht und sein ganzer Hals schimmerte blutrot. Neben ihm ein kleines Taschenmesser. Ich kickte das Messer mit dem Fuß weg und legte mich neben ihn. Ich strich mit meiner Hand über seine kühle Wange. Eine gefühlte Ewigkeit lagen wir so da, bis ich irgendwann aus meiner Art Trance erwachte und endlich das Unausweichliche tat. Ich rief seine Mutter, welche sofort ranging, an. Nachdem ich ihr, noch völlig aufgewühlt, die Situation schilderte und den Weg beschrieb, wollte sie sofort herkommen. Gefühlte Stunden, die im Endeffekt nur zehn Minuten waren, später stand sie vor mir. Begleitet wurde sie von ihrem Mann und mehreren Sanitätern. Diese gingen auf meinen Freund zu und untersuchten ihn. Als sie aussprachen, dass er tot gewesen sei, sahen alle das Unübersehbare ein. Er hatte Selbstmord begangen.
Fünf Tage nach dem schrecklichen Vorfall war schon die Beerdigung und ich war keineswegs bereit dafür. Ich stand direkt neben seiner Familie und blickte in deren von Trauer erfüllten Gesichter. Ihre Gesichtszüge glichen meinen. Nach den kurzen Reden einiger Familienmitglieder beschritten wir den Weg zu seinem Grab. Ich ging als Letzte, da ich auf dem Weg viel nachdachte. Schlagartig fing ich an zu weinen. Er war mein Ein und Alles. Ich habe ihn geliebt und trug nun die Schuld an seinem Tod. Ich blieb plötzlich stehen, drehte mich um und rannte mit tränenden Augen zurück in die Kirche. Es war wie ein Reflex, den ich nicht stoppen konnte. Ich ging geradewegs auf den Beichtstuhl zu und setzte mich hinein. Alles Falsche, was ich je getan habe, sprach ich zum ersten Mal laut aus. Schnell erkannte ich, was für ein schlechter Mensch ich schon immer gewesen bin. Schnell flüchtete ich aus der Kirche und rannte. Ich rannte dahin, wo alles begann und auch alles endete. Zu seinem Lieblingsort. Da, wo er mich zum ersten Mal küsste, da, wo er starb und gleichzeitig da, wo ich sterben würde. An der Stelle angekommen entdeckte ich schnell sein Messer, welches ich vor Tagen unter einen Blätterhaufen geschoben hatte. Ich hob es auf und sah mich durch die Spiegelung des Metalles an. Lange starrte ich mir selbst in die Augen und fasste letztendlich den Entschluss. Ich wollte dieses Meer aus Lügen beenden und ich hätte es schon lange tun sollen. Erst übte ich leicht, dann immer mehr Druck auf die Klinge des Messers aus. Als ich das Blut meinen Hals herunterlaufen spürte, wurde mir schon langsam schwarz vor Augen. Es war vorbei. Ich hatte mein Leben beendet und begab mich auf die Reise. Die Reise zu ihm.

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