I.

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"Das macht dann 20$. Brauchst du noch ne Tüte?"  "Nein danke, das geht schon so." Avery übergab das Geld an die schlecht gelaunte Kassieren und musterte sie genau. Die Frau hatte fettiges braunes Haar, einen leichten Frauenbart, und ein Muttermal auf ihrer linken Gesichtshälfte direkt über ihren Mund. Sie wirkte müde. Müde von diesem Job, den Menschen die sie jeden Tag sah und Müde von ihrer gespielten Freundlichkeit, von der Avery jedoch recht wenig mitbekam. Allerdings verdiente sie ihr eigenes Geld, konnte sich wahrscheinlich eine einigermaßen schöne Wohnung leisten und musste, nicht so wie Avery, bei ihrem Mann leben, den sie schon lang nicht mehr liebte, ihr jedoch einem Unterschlupf gewährte. Sie war abhängig von ihm. Sein Name war Russell Scott, er arbeitete als Detective bei der NYPD. Avery war sich nicht sicher, ob er sie noch liebte. Vielleicht war er auch nur zu geizig zum teilen oder konnte sich schwer von alten Dingen trennen. "Ist noch was? Du hältst die ganzen Leute hier auf!" Das braunhaarige Mädchen drehte sich um und blickte in die verärgerten Gesichter der Schlange die sich mittlerweile hinter ihr gebildet hatte. Sie murmelte etwas wie "Entschuldigung", packte ihre Sachen und verschwand.

Auf dem Nachhauseweg bildeten sich langsam dunkle, bedrohliche Wolken, die auf einen schweren Sturm hinwiesen. Avery hoffte doch stark, dass der noch wegbleiben würde bis sie Zuhause angekommen war. Es kam ihr so vor als würden die massiven Gewittervorzeichen ihr regelrecht die Luft rauben und sie erdrücken wollen. Dort wo man vorher noch das Gezwitscher der Vögel wahrnehmen konnte herrschte jetzt, wie es Avery sagen würde, Totenstille. Auch von dem Tumult, den man normalerweise auch noch in der Vorstadt vernahm war jetzt wenig zu sehen.

Ein schwerer, nasser Tropfen ließ sich auf Averys Stirn nieder. Er rollte über ihre dunklen, natürlichen Augenbrauen, runter zu ihren hasselnussbraunen Augen. Und da kam auch schon der Nächste. Und wieder der Nächste. Sie prasselten auf die Erde nieder und die vereinzelten Pflanzen freuten sich sicherlich etwas frisches Wasser zu bekommen. Jedoch war das, wie Avery fand, der ungeeigneste Zeitpunkt überhaupt. Sie hatte zwar nur noch ein kleines Stück vor sich doch so wie es jetzt aussah, sollte sie sich lieber ein geschütztes Plätzchen suchen und warten bis es vorbei war oder versuchen Russell zu kontaktieren, damit er sie mit Auto abholen konnte. Sie selber hatte keins. 'Du brauchst kein Auto, du hast mich und ich habe eins.', das sagte er immer wenn sie hin fragte wieso sie keins besitzen durfte.

Sie bog in eine kleine, überdachte Gasse, wo sich eine junge Frau lieber nicht am späten Abend hineinbegeben sollte und Mülltonnen standen. Das Mädchen zückte ihr Handy, was ihr auch Russell geschenkt hatte, und tippte seine Nummer. Wie so oft war belegt und Avery wusste innerlich, dass er ihr fremdging doch was sollte sie schon machen. Sie hatte sonst keine Bleibe und kein Geld. Ihre Eltern kannte sie kaum. Alles was ihr also übrig blieb war Russell. Die beiden lernten sich damals in der Stadtbibliothek kennen. Er war ein junger, gutaussehender Mann der neu in der Stadt war. Avery war die damals noch selbstbewusste Frau die dankbar für ihren Job war und sich den Jüngling angelte. Sie verliebten sich und er machte er ihr schon nach kurzer Zeit einem Antrag. Zu ihrer Hochzeit luden sie alle Leute ein, die die beide jemals in ihrem Leben getroffen hatten. Avery hatte sich in ihrem Brautkleid wahrlich wie eine Prinzessin gefühlt mit dem perfekten Prinzen an ihrer Seite. 'Armes Mädchen heiratet reichen, jungen Mann' klingt wie das perfekte Märchen, doch mit der Zeit veränderte sich Russell zum schlechten. Er zeigte sein wahres Gesicht, geizig, machtbesessen und betrügerisch. Für Avery war es damals dann schon zu spät sich von ihm zu trennen, sie war wie eine Marionette für ihn und er hatte die Fäden in der Hand.

Avery die sich mittlerweile auf den kalten Boden gesetzt hatte stand nun langsam auf und bemerkt, dass es nur noch nieselte. Sie machte sich auf den weiteren Weg bevor es wieder stärker zu regnen begann.

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