Sie steht morgens auf, zieht sich an, läuft die Treppe herunter in die Küche. Sie freut sich auf den Tag, hat gute Laune, ein Lächeln im Gesicht. Ihr Bruder lächelt sie an, als sie den Raum betritt, genau wie ihre Eltern, die ihr fröhlich, wie jeden Morgen, einen guten Morgen wünschen und im Radio Berichte hören über den nicht enden wollenden Strom von Flüchtlingen, die in Booten, die dauernd kentern, über das Meer kommen, über Kriege, die irgendwie niemals enden, über Tote, von denen lange schon niemand mehr weiß wofür sie ihr Leben gaben.
Aber das ist alles so weit weg, betrifft sie nicht.
Ok, natürlich haben Sie Mitleid mit den Menschen, aber sie können ja auch nicht wissen wie es ist. Und kurz darauf lachen sie alle glücklich wieder über den flachen, so schrecklich unpassenden Witz des Radio Moderators und schon ist das Mitleid wieder aus ihrer Welt.
Sie lacht mit ihrer Familie, gibt ihren Eltern einen Kuss auf die Wange, hastet aus dem Haus um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Es regnet, aber nichts kann ihre Laune trüben, erst recht kein Regen, denn Regen ist neu, ist neu jedes Mal wieder. Und neu ist gut.
Sie rennt durch die Straßen und lacht ganz plötzlich glücklich los, als auf einmal ein Junge vor ihr steht, im strömenden Regen, ein Lächeln im Gesicht, als wäre sie das schönste auf der Welt und sie schaut genau so zurück.
In der Pause steht sie lachend mit ihren Freunden auf dem Hof, der noch nass ist vom Regen. Sie lacht, weiß nicht mal mehr über was. Sie hat viele Freunde, wenig gute, aber genug.
Sie schaut zu wie die Wolken über ihr an ihr vorbei über den Himmel ziehen, Schatten auf den Boden werfen und sie erinnert sich an ihren Großvater, der vor einigen Jahren starb. Natürlich war sie traurig, doch er war alt, hatte ein langes, ein gutes Leben, war glücklich, hatte seine Ziele erreicht. Es war Zeit für ihn zu gehen und als er friedlich eingeschlafen war trat der Tod an seine Seite und er ging mit ihm mit, ohne Schmerz, ohne Reue. Es tat natürlich weh ihn gehen zu lassen, doch dort wo er jetzt ist, ist es besser, da ist sie sicher.
Bis auf diese kleine Ausnahme hat sie den Tod noch nie gesehen und der Tod hat sie noch niemals, nicht mal im weitesten Sinne, konfrontiert.
Der Junge, den sie liebt, holt sie aus ihrem - diesem Gedanken, indem er sie über seine Schulter wirft, lacht und zurück in die Schule geht. Der Tag geht weiter, wie der Tag davor und davor, danach und danach. Und sie ist dabei so glücklich, sie ist immer glücklich, immer.
Ihr ganzes Leben ist so wunderschön, ist vollkommen, perfekt.Doch wer ganz genau hinschaut, der sieht vielleicht, dass ihr Leben zu wunderschön, vollkommen, perfekt ist. So, wie ein Leben gar nicht sein kann.
Denn dieses Leben ist nicht wirklich, dieses Mädchen lebt, aber nicht richtig, nur in meinen Gedanken in der Welt, in der ich gerne leben würde, genau das Leben, von dem ich wünschte, es wäre meines. Ihre Welt ist die Welt, von der ich träume, insgeheim, in die ich flüchte, wenn der Schmerz mich mal wieder überrollt, die Ströme aus Blut mich zu ersticken scheinen und die Schreie, die Schüsse, in meinen Ohren widerhallen. Immer und immer und immer wieder.
Die Schreie meiner Mutter, als die Kugel meinen Vater traf und er sich dann nicht mehr bewegte. Niemals wieder bewegte.
Das Blut, dass aus dem Mund meines Bruders in Strömen floss, nachdem das Gebäude neben ihm von der Bombe in Stücke gerissen wurde.
Die Schüsse, die ihr Ziel zu selten verfehlten und die Angst, denn eines dieser Ziele war ich.
Immer wenn es still um mich wird, dann sehe ich wieder das, was ich versuche zu verdrängen, was nicht verdrängt werden will, was nie vergessen werden kann.
Ich sehe wie meine Mutter mich zu diesem Boot hinbringt, ich weiß noch so genau wie laut ich schrie, wie sehr sie weinte, als sie einem Mann Geld in die Hand gab und danach einfach ging, ich sehe sie immer wieder vor mir stehen, bis es knallte, bis sie fiel, so schrecklich schrie und liegen blieb. Ich weiß noch wie der Mann mit dem Geld mich in das Boot zu den viel zu vielen anderen zerrte, wie Schüsse durch den Hafen hallten, wir uns plötzlich auf dem Wasser Richtung Europa befanden und wie der Sturm dann irgendwann das viel zu kleine Boot mit viel zu vielen Menschen drin in tausend kleine Stücke riss und ich dann um mein Leben schwamm, wie der Mann mit dem Geld, eine Planke zu mir schubste und mir sagte:"Halte dich fest, halte durch, ich weiß das du das schaffst", wie ich es tat, wie ich mich festhielt, wie diese Planke mein Leben rettete, wie er wenig später unter einer Welle verschwand, regungslos auftauchte, da niemand ihm eine Planke reichte. Ich weiß, wie ich ihm helfen wollte, ihn retten, irgendwie, doch ich weiß auch noch wie ich merkte, dass keiner ihm mehr helfen konnte.Und jetzt, auf dem Boot der Küstenwache, kurz vor Lampedusa, eingewickelt in eine Decke, ist das Mädchen mit dem perfekten Leben das Einzige, das verhindert, dass ich mich selbst in der Vergangenheit verliere.
Ich höre Worte die sie reden: "Flüchtling" und "Noch mehr Asylbewerber" und "Was wollen die denn hier?" Ist das wirklich alles was ich bin?
Nein, ich bin das Kind mit dieser Vergangenheit, doch niemand aus dieser heilen Welt kann meine kaputte je verstehen.
Wie gerne ich jetzt in irgendeiner Küche sitzen würde, einen Bericht über Flüchtlinge hören, mir selber gut zureden: "Das ist so weit weg, das geht mich doch Nichts an." Wie gerne würde ich jetzt aufgeben, aufhören, wenn die Erinnerungen doch nie ganz verschwinden.
Doch ich werde für mein Leben kämpfen, das schulde ich all denen, die es wegen mir nun nicht mehr können. Tausend mal hat der Tod mir ins Gesicht gelacht, hatte seine Hand schon über mir; doch ich lebe. Und ich werde leben.Ich werde niemals das Mädchen in meinem Kopf sein, niemals mehr wissen wie es ist, so unbeschwert zu leben, aber vielleicht schaffe ich es ja eines Tages und werde glücklich, ich habe doch noch so viel Zeit.
Vielleicht schaffe ich es ja, vielleicht, ganz vielleicht.~~~
Danke für's Lesen! 😊
Ich will mit dieser Geschichte nicht behaupten, ich wüsste wie man sich fühlt, nachdem man etwas annähernd Schreckliches erlebt hat. Ich glaube einfach nur, dass wir in dieser Zeit viel zu selten noch den Menschen als einzelnen und nicht nur in der Masse sehen.
Wer denkt denn noch an das, was jeder einzelne Flüchtling Schreckliches erleben mussten, wenn man Nachrichten schaut? Wer sieht denn noch die einzelnen Menschen und nicht nur "Flüchtlinge"?
Traurig, irgendwie...

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The truth of this dream
NouvellesEin wunderschönes, heiles, perfektes Leben. So würde man es beschreiben, glaube ich. Ihr Leben. Aber irgendwie ist ihr wunderschönes, heiles, perfektes Leben ZU wunderschön, heil und perfekt. Zu sehr, um wahr zu sein. ------- Nur eine Kurzgeschic...