2: Der schwarze Tod naht ...

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Während ich so seinen friedlichen Schlaf bewache, erinnere ich mich daran, wie alles angefangen hat.
Der Anfang von meinem Ende.
Ich war damals noch sehr jung, als es das erste Mal passierte ...

Ein beharrliches Trommeln an der Tür meines Zimmers weckte mich.
„Alexandra Cailin McLane! Es wird Zeit, dass du endlich aufstehst, Mädchen!", klang die verzweifelte Stimme unseres Kindermädchens durch die Tür.
Ich gab ein leises Gähnen von mir und wollte das dick-gefütterte Oberbett bereits wieder über meinen Kopf ziehen, als die Tür mit einem lauten Krachen an die Wand knallte.
Erschrocken fuhr ich hoch - und ein gefühltes Dutzend Zettel fielen auf den Boden.
Fräulein Brasslyn schenkte ich nur einen kurzen Augenblick etwas Aufmerksamkeit, denn die Zettel waren mir wichtiger.
Sofort zerrte ich die Decke beiseite und sprang mit nackten Füßen auf die Holzdielen, die den Boden meines Zimmers bedeckten.
„Oh nein, oh nein, oh nein!", hektisch sammelte ich alles auf.
Es waren meine Zeichnungen, an denen ich gestern Abend noch gearbeitet hatte. Sie waren vielleicht nichts Besonderes in den Augen anderer, doch mir bedeuteten sie sehr viel.
Sie waren meine Träume. Das, was ich des Nachts träumte, versuchte ich, am Morgen danach direkt festzuhalten. In Bildern.
Unser Fräulein Brasslyn behauptete immer, die Träume wären die dunklen Wünsche und Fantasien der Menschen. Zumindest habe ich das so verstanden, als sie mit meiner Schwester über deren Träume sprach.
Träume seien böse. Sie würden selbst den gutherzigsten Menschen, den man kennt, in etwas Ungeheuerliches verwandeln, sobald die Sonne untergeht.

(Zu der Zeit wusste ich nicht, welche Art von Traum meine ehrenwerte Schwester gehabt hatte. Doch ich glaube, auch wenn ich es gewusst hätte, so wäre ich daraus trotzdem nicht klüger geworden ...)

Die schon leicht betagte Frau in dem schlichten, grauen Kleid ging an mir vorüber, hin zu den Fenstern, um die Vorhänge mit Schwung zur Seite zu ziehen.
Sie schaute einen Moment nach draußen, richtete ihren Blick dann auf mich und seufzte.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nichts auf dein Bett legen? Da gehören nur Decken, das Kissen und du hin."
„Ja, Fräulein Brasslyn", murmelte ich leise und betrachtete den Boden.
Sie hatte es mir schon sehr oft gesagt. Und ich habe immer einmal öfter Sachen auf mein Bett gelegt, sobald sie aus dem Zimmer gegangen war.
„Nun los, deine Eltern warten im Esszimmer", sagte sie und ging in Richtung Tür, „Zieh dir etwas über. Und bitte beeil dich."
Damit verschwand sie.
Als die Tür sich schloss, erhob ich mich mit meinen Zeichnungen im Arm und ließ mich wieder auf das Bett fallen.
Für einen Moment starrte ich aus dem Fenster.
Was hätte ich nicht drum gegeben, in meinen Träumen zu bleiben. Es gefiel mir dort sehr. Ich durfte lange schlafen, die Sonne schien, meine Eltern waren immer glücklich und ich verstand mich gut mit meiner Schwester. Mein Bruder war auch dort - ich sah ihn ja zurzeit nur noch selten.
Er begleitete Vater zum Gerichtshof. Seine Zukunft sah für ihn vor, dass er ein ebenso bekannter Richter werden sollte, wie mein Vater.
Bei mir sah es anders aus.
Ich würde verlobt werden, ob ich wollte oder nicht.
Für meine Schwester waren die Planungen bereits in Arbeit. Man suchte nach einer 'guten Partie' für sie. Was auch immer das heißen mochte ...

„Guten Morgen Vater, Guten Morgen Mutter", sagte ich höflich, als ich in das Esszimmer kam.
Meine Eltern unterbrachen ihr Gespräch und drehten sich zu mir herum.
„Da ist ja mein Mädchen!" lachte mein Vater und breitete die Arme aus.
Ich rannte auf ihn zu und er schloss mich in eine feste Umarmung.
Fräulein Brasslyn betrachtete mich kopfschüttelnd.
„Kind, was hatte ich dir gesagt? Du sollst dir etwas überziehen!"
Sie sah mich mit strengem Blick an und ich versteckte mich in den Armen meines Vaters vor ihr.
„Aber aber, Alenia, es ist doch warm genug hier", erwiderte Mutter an meiner statt und lächelte dem Kindermädchen beruhigend zu.
Dieses rümpfte nur die Nase: „Wenn sie sich verkühlt, so braucht sie auch nicht jammern, wenn sie im Bett bleiben muss." Damit wandte sie sich wieder ihrem Frühstück zu.
Meine Mutter strich mir einmal über den Kopf und ich ging auf meinen Platz.
Neben Fräulein Brasslyn.
Schweigend nahm ich mir eines der kleinen Brötchen, die ich so sehr liebte, und langte nach der Marmelade, doch mein Arm war zu kurz.
Mein Vater hatte sich hinter der Zeitung versteckt, die uns jeden Sonntag gebracht wurde, Mutter und Fräulein Brasslyn unterhielten sich angeregt über den Tisch hinweg.
Es wäre unhöflich, einen der Erwachsenen zu unterbrechen, nur konnte ich die Marmelade trotzdem nicht erreichen.
Ich versuchte es dennoch. Vorsichtig zupfte ich an Fräulein Brasslyns Ärmel: „Verzeiht, aber mö-" - „Sch! Hast du denn nicht gelernt, ruhig zu bleiben, wenn die Erwachsenen reden?", sie funkelte mich böse an.
Erschrocken zog ich den Kopf zwischen die Schultern und machte mich so klein wie möglich auf meinem Stuhl.
„Verzeiht, Fräulein Brasslyn, ich wollte Sie nicht stören!" nuschelte ich entschuldigend.
Sie wandte sich wieder zu Mutter um und hörte ihr weiter zu.
Es fiel mir schwer, es zuzugeben, aber Fräulein Brasslyn hatte nun mal recht - ich wusste, dass ich den Mund halten sollte. Es war mein Fehler.
Also saß ich das restliche Frühstück stillschweigend ab, knabberte an einem Brötchen ohne Marmelade und hing einsam meinen Gedanken hinterher.

Reverser - Back and ForthWo Geschichten leben. Entdecke jetzt