Kapitel I - Begegnung

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Ich kämmte gerade mein braun gelocktes, langes Haar, als ich im Spiegel sah, wie jemand vor meinem Fenster entlang in meinen Garten umher spazierte. Langsam legte ich die Bürste hin und drehte mich um. Tatsächlich. Der Eindringling stand mit dem Rücken zu mir. Scheinbar hatte er mich nicht bemerkt.

Dummkopf, natürlich hat er dich nicht bemerkt!, schalt ich mich, Sonst würde er doch nicht einfach mit dem Rücken zu dir stehen!

Ich bewaffnete mich mit einem Besen und ging langsam auf die Terrasse. Dann schlich ich mich an ihm ran und dann, grade in dem Moment, in dem ich zuschlagen wollte ... drehte er sich um. Vor Schreck ließ ich den Besen fallen, genau auf seinen Kopf. der Mann fluchte etwas in einer mir unbekannten Sprache.

"Hello?", fragte ich ihn in meiner Muttersprache, "Do you speak English?"

Er sah mich verdattert an.
"Sprechen Sie Deutsch? Est-ce que vous parlez français?"

Immer noch Verwunderung. Na toll. Mehr Sprachen konnte ich nicht ... dachte ich ...

"Kreje tece morle to?", fragte er und in meinem Kopf formten sich die Worte Wer bist du?

Ich trat einen Schritt zurück. Er runzelte die Stirn, dann wiederholte er nachdrücklich die Worte: "Kreje tece morle to?"

Wieder flüsterte etwas in mir Wer bist du?

"Webster", stellte ich mich vor, "Melissa Webster."

"Melissa?", fragte er mit großen Augen.

"Ja, Melissa. Haben Sie ein Problem damit?"

Er sah mich verwirrt an. Stimmt ja, er kann doch keine meiner Sprachen sprechen!, schalt ich mich.

"Ke ... ratte ki ta kerkere Melissa ..." Ich ... hatte einmal eine Schwester namens Melissa ...

"Sere ka ... Sere ketje to ja tiem?" Diese Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Sie bedeuteten Sie Armer ... Sie vermissen sie wohl sehr?

Er nickte. Ich legte ihn eine Hand auf die Schulter.

"Jetzt kommen Sie erst mal rein", sagte ich in dieser seltsamen Sprache, von der ich immer noch nicht verstand, warum ich sie beherrschte.

Als wir drinnen waren und uns auf mein großes weißes Ledersofa gesetzt hatten, fiel mir auf, dass ich noch gar nicht wusste, wie er hieß. Ich fragte mein Gegenüber danach.

"Aiden", sagte er und strich seine weiße Strähne, die ihm ins Gesicht gefallen ist, hinter sein spitzes Ohr, "Aiden Evans."

Moment mal... Spitzes Ohr?

"Ah okay.", sagte ich, "Also, Mr. Evans..."

"Nennen Sie mich ruhig Aiden.", fiel er mir ins Wort.

"Gut, Aiden. Also, was führt Sie zu mir?"

"Also ich bin auf der Suche nach Melissa - also meiner Schwester, nicht Sie - und hatte das Gefühl, hier würde ich sie oder eine ihrer Freunde beziehungsweise Verwandten finden. Bei ihnen tippe ich eher auf Verwandte."

Ich sah ihn fragend an, er deutete auf meine Ohren: "Sie haben ebenfalls spitze Ohren - na gut, etwas zumindest - und außerdem hatte Melissa dieselben Augen."
Hm ..., überlegte ich, der Mädchenname meiner Mutter war Evans ... Aber sie heißt ganz sicher nicht Melissa! Ob sie vielleicht eine Schwester mit den Namen hatte? Ich wusste es nicht. Meine Mutter hatte meinen Vater früh verlassen und dieser sprach nie über sie. Es gibt so viele Evans' auf der Welt, da kann das doch nicht sein. Außerdem ist die Ähnlichkeit gewiss nur ein Zufall. Ich runzelte die Stirn.

"Ist etwas?", fragte Aiden.

"Nein", erwiderte ich, "Ich denke nur nach."

"Na gut. Könnten Sie mir helfen, meine Schwester zu finden?"
Ich nickte. So würde ich auch Antworten finden.

Auch, wenn ich ihn nicht kannte und ich nicht wusste, ob ich ihm vertrauen konnte.

Auch, wenn ich kein gutes Gefühl bei der Sache hatte.

Auch, wenn ich ahnte, dass mein Leben eine 180°-Wende nehmen würde.

Eine halbe Stunde später waren wir aus Worms hinaus und fuhren nach Norden in Richtung England.

"Wohin fahren wir? ", fragte Aiden.

"Dorthin, wo der Teil meiner Familie lebt, in dem Melissa wohnen sollte. Wenn sie nicht weggezogen ist, meine ich. Wie sieht sie denn aus?"

"Sie hat rotbraune glatte Haare und grünblaue Augen, wie Sie."

"Und sie hat spitze Ohren?", hakte ich nach, "So wie Sie?"

"Ja genau." Als ich kurz von der Straße zu ihm sah, sah ich, wie er grinste. Ich lächelte zurück. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Straße. "Warum haben Sie sich denn eigentlich als Elb verkleidet? Ich meine, es ist unüblich, so herumzulaufen."

"Also... Das ist nicht von Bedeutung."
Ich schielte zu Aiden, der die Hände zwar auf seinem Schoß liegen hatte, sie aber so stark in den Stoff seiner Hose krallte, dass die Knöchel weiß schienen, und runzelte die Stirn.

Irgendwas stimmte mit diesem Typen nicht. Und ich würde herausfinden, was es war.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages waren wir in Cornwall angekommen, wo meine Mutter herstammte.

Der Schatten des ParadiesesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt