Anfang und Ende

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   Sie betrachtete ihren wenig gebräunten, dünnen Arm, an den sie die Klinge drückte, und zusammenzuckte, als der erste stechende Schmerz sie durchfuhr. Schnell, wie aus Reflex, zog sie das scharfe japanische Küchenmesser mit der Keramikklinge weg, und betrachtete ihren Arm.
   Nichts.
Ihr Arm war unbehelligt geblieben, sie hatte kaum einen Kratzer hinterlassen, und ihre Haut war immer noch glatt und weich, wie vorher. Resigniert seufzte sie, während sie von ihrem mit elfenbeinfarber Seidebettwäsche bezogenen Bett aufstand, und sich leise in die Küche schlich, um das Messer sorgfältig zu säubern, was sie nicht tun müsste, aber sonst schnitt sie mit diese Messer nur Fleisch, und sie wollte ja keine Salmonellenansammlung haben, weshalb es zur Gewohnheit wurde, es immer ganz sauber zu machen.
   Sobald sie sich in ihr Zimmer zurückgeschlichen hatte, sah sie auf ihren tintenblauen Wecker, und stellte fest, dass es viertel vor vier am Morgen war. Vierzehn Minuten vor Vier, um genau zu sein. Sie seufzte wieder, diesmal, weil sie wieder nach einer Nacht ohne Schlaf in die Schule musste.
   Dreizehn Minuten vor Vier. Sie zupfte gedankenverloren am Saum ihrer taubengrauen Kaschmirstrickjacke mit den hübschen Glasknöpfen. Einer hing lose an einem Stück Garn, und drohte bei der nächsten Gelegenheit abzufallen, um dann beim Aufprall am Boden zu zerbrechen, und überall winzige Splitter zu verteilen.
   Zwölf Minuten vor Vier. Sie verglich sich mit dem Glasknopf ihrer Lieblingsstrickjacke. Wir drohen beide zu zerbrechen. Es ist nur noch ein dünner Faden, von dem unsere Existenz abhängt.
   Sie griff nach dem losen Knopf, umfasste ihn, riss roh daran, und als er sich gelöst hatte, betrachtete sie ihn, wie er so in ihrer Handfläche lag.
   Elf Minuten vor Vier. Sie schloss die Hand zu einer Faust, und eine plötzliche Welle der Wut überschwemmte sie. Mit einer schnellen, kräftigen Bewegung schoss sie den kleinen, runden Knopf quer durch ihr grosses Zimmer, wo er dann an ihrem Kirschenholzschrank zerschellte. Fasziniert beobachtete sie, wie die kleinen Glassplitter wie Regen zu Boden fielen, und dort liegen blieben.
   Zehn Minuten vor Vier. Plötzlich überkam sie, wie vorher die Wut, Panik. Was wenn jemand anderes sie in einem Wutanfall kaputt machen würde? Sie hatte den Glasknopf ganz schnell kaputt machen können, bei ihr würde es sicher auch ganz einfach ablaufen. Vielleicht würde Marcus, ihr persönlicher Nemesis, mit seinen Kollegen wieder mal dafür sorgen, dass sie einen emotionalen Tiefpunkt hatte und, wie so oft, weinend vor ihm wegrannte.
   Neun Minuten vor Vier. Es gab Leute, die sagten, wer weinte, sei einfach zu lange stark gewesen. Aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Zumindest nicht für sie. Sie war nie stark gewesen, aus jeder Auseinandersetzung mit Marcus ging sie weinend hervor. Jedes mal. Sie war nie stark gewesen.
   Acht Minuten vor Vier. Sie stand auf, wobei ihr einige haselnussbraune Strähnen aus ihrem Dutt ins Gesicht fielen. Sie lächelte, als sie zu ihrem Schrank tapste um einen Pyjama hervorzuholen. Die Glassplitter, die sich in ihre Füsse bohrten, ignorierte sie, und zog einen tintenblauen Satinpyjama an.
   Sieben Minuten vor Vier. Während sie ihre Zähne putzte, dachte sie nach. Über die schule, über Marcus. Über das Leben.
   Sechs Minuten vor Vier. Sie stellte ihre helltürkise Zahnbürste in den farblich dazupassenden Becher, und löste ihre weichen Locken aus ihrem Dutt.
Sollte sie ihre Haare bürsten? Oder sie jetzt seinlassen und dann morgen erst wieder? Kurz entschlossen warf sie sich ein paar Strähnen mit einer bestimmten Bewegung über die Schulter und verliess das Bad.
   Fünf Minuten vor Vier. Sie schlüpfte unter die Bettdecke und genoss das Gefühl des kühlen Stoffes. Die Glassplitter die noch an ihren Füssen hafteten und das wenige Blut, das das reinweisse Bettlaken befleckte, beachtete sie nicht. Mit fast schon einem Gefühl von Geborgenheit legte sie ihren Kopf auf das weiche Kissen. Schläfrig fasste sie den Entschluss, das sie für ihre Mutter weiterleben würde. Für ihre Schwester. Für ihren toten Vater.
   Vier Minuten vor Vier. Sie schlief.

Nope. I won't die.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt