Die Welt steht still. - Jakob Sinn / Johannes Strate

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» Ich trete schluchzend in der tristen Kapelle vor und stelle mich an den Ambo. Nachdem ich mir noch ein letztes Mal über die Augen wische, beginne ich, all das Geschriebene zu lesen: „Jeden Tag habe ich ihn geliebt. Jeden der 2648 Tage, die wir miteinander verbracht haben, habe ich ihn mehr geliebt, als den Tag zuvor. Und er hat mich geliebt, es mir Tag für Tag gesagt, zugeflüstert, in Briefen und Mails geschrieben, mir entgegen gebrüllt, als wir gerade von der Bühne kamen und noch in der 'Bühnenlautstärke' sprachen oder eher schrien, weil er das, was er sich sein Leben lang erträumt hatte, voller Adrenalin liebte, Tag für Tag. Trennungen von ihm waren die schrecklichsten, die ich je erlebt habe. Er war die Liebe meines Lebens. Nein, er ist die Liebe meines Lebens. Und doch kann ich gar nicht sagen, was mir fehlt. Sein Lächeln, sein Grinsen, sein lautes und leises Lachen fehlen mir. Seine Phasen, in denen er nur über Gitarren redet, Musik hört oder Lieder schreibt, fehlen mir. Ich vermisse, wie er mich ansieht, mich anlächelt, mich ermutigt, mehr zu schaffen. Seine Schulter, auf der ich meinen Kopf immer ablegen kann, seine Arme, in denen ich liebe zu liegen, fehlen mir. Sein Kopf, wie er verzwickte Dinge zu verstehen und erklären versucht, wie er offensichtlich nachdenkt oder verzweifelt; es fehlt mir. Sein Herz, das, wie er immer wieder betonen musste, nur für mich schlägt, schlug, fehlt mir. Zu wissen, dass er da ist, mir zuhört und mich ermutigt, weiterzumachen, fehlt mir."
Viel zu oft bin ich den Text vorher durchgegangen, sodass ich ihn jetzt wie in Trance auswendig vortrage, ohne irgendwas wahrzunehmen. Kris in der ersten Reihe quält ein Lächeln aus seinen Lippen und sieht mich ebenso leidend an. Erneut versuche ich mit meinem Handrücken, den ununterbochenen Tränenfluss zu stoppen, bevor ich zitternd fortfahre.
„Ich kann nicht alles aufzählen, wofür ich ihn geliebt habe, wofür ich ihn liebe und nicht genau sagen was mir seit 112 Stunden und 27 Minuten fehlt. Ich liebe ihn mit all meinen Sinnen, ob er hier ist oder oben in den Wolken sitzt, von wo er mich ab jetzt beobachtet."
Flüsternd lese ich die letzten Zeilen: „Mit jedem Wort reißt sich ein Stück aus meinem Herzen, das er mir hinterlassen hat, obwohl es nur mit seinem funktioniert. Ich liebe Johannes Strate, den wundervollen Menschen, perfekten Mann an meiner Seite, der nun dort oben sitzt, für alles. Und er fehlt mir, als hätte ich mein eigenes Herz verloren." Ich trete eine Schritt zurück und spüre, wie sich der Boden unter meinen Füßen zu bewegen beginnt, ich sinke und nicht mehr aufstehen kann. Niels ist zu mir gerannt und hat mir hochhelfen wollen, doch mein Körper will nicht.

„Jakob!" ist das Letzte, was ich wahrnehme, bevor ich in mich sacke und die Welt um mich still steht.

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