Kleine Ente

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Zwei Wochen nach Neujahr

Ich zog den Schlüssel aus der Türe und zog diese hinter mir zu. Im ersten Moment lauschte ich in unsere Wohnung, wie ich es immer tat. Ich hörte meine Ma in der Küche arbeiten und das alte Radio laufen. Ungewollt atmete ich auf. Ich schob meine Schuhe ungeachtet in die Ecke, so wie ich es immer tat. Dann lief ich in unsere kleine Küche.

Mamã, wie geht es dir", ich küsste meine Ma auf die Wange.
„Du bist schon zuhause, Querida?", fragte sie erstaunt und strich mir liebevoll über die Wange.
„Konnte früher Schluss machen, weil so wenig zu tun war. Was kochst du?"
Ich beugte mich über ihre Schulter, um einen Blick in den Topf zu erhaschen.
Nada de especial, nichts Besonderes, mein Schatz."
„Aber es riecht wirklich gut." Sie winkte ab, doch ich wusste, dass sie sich freute. „Bin in meinem Zimmer."
Doch davor schaute ich noch bei meiner kleinen Schwester vorbei. Sie saß auf ihrem Bett und spielte mit ihren Kuscheltieren.
„Tabi-Süße", begrüßte ich sie und kitzelte sie. Sie quiekte und rollte sich zusammen. Leise lachend lief ich sie los, sie war immer noch so niedlich.
„Du quiekst wie eine kleine pato."
„Endlich bist du wieder zuhause, Joella!" Sie umarmte mich fest, besser gesagt meinen Bauch.
„Ja", ich strich ihr über die dunklen glatten Haare.
„Essen ist fertig", hörten wir unsere Ma aus der Küche rufen.
„Geh schon mal vor, Tabi, ich bring meine Tasche noch in mein Zimmer."

Kurz darauf saßen wir in unserem Ess- bzw. Wohnzimmer. Der Tisch samt Stühle nahm fast über die Hälfte des Raumes ein, auf der anderen Seite war ein Fernseher mit einer schmalen und durchgesessenen Couch. Wir hatten nicht besonders viel Platz in unserer Wohnung, doch für uns Vier genügte es einigermaßen.

Der Fernseher war an und ein Fußballspiel lief lautstark. Stumm aßen wir, denn wir durften nicht sprechen, wenn unser Vater Fußball sah. Sein Blick war unbeirrt auf den Apparat gerichtet und eine steile Falte zerfurchte sein verärgertes Gesicht.

„Nicht einmal Spielen können diese Hornochsen", schimpfte er sauer. Und nahm einen großen Schluck aus seiner Bierflasche.

Meine Mamã löffelte mit gesenkten Blick aus ihrer Schüssel. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und ihre früher glänzenden schwarzen Haare, rutschten aus ihrem tiefen Dutt. Sie sah sehr müde aus. Die letzten Tage waren schlimm gewesen. Am liebsten hätte ich meine Hand ausgestreckt um nach ihrer zu greifen, so leid tat es mir, doch ich wusste, dass ich damit nur das Gegenteil erreichen würde.
Stattdessen blickte ich zu meiner kleinen Schwester, die mir gegenübersaß. Sie beugte sich ebenfalls über ihre Schüssel und hängte damit fast ihre Haare ins Essen. Sie hatte viel mehr von dem portugiesischen Blut unserer Mutter geerbt als ich. Vorsichtig stupste ich sie mit dem Fuß unter dem Tisch an. Sie blickte auf und erwiderte mein Lächeln. Ich rollte mit den Augen, weil ich wusste, dass sie das zum Lachen brachte. Und richtig, sie versuchte ihr Grinsen zu unterdrückten und ihre Lippen kräuselten sich. Hart schlug Vater mit der Faust auf den Tisch, sodass das ganze Geschirr klirrte. Und Tabea zuckte zusammen. Wüst fluchte er. Die gegnerische Mannschaft war ein Tor gelungen.
„Verflucht, siehst du nicht, dass meine Flasche leer ist", fuhr er Ma an.
„Ich hole dir eine Neue." Ruhig stand sie auf und ging in die Küche. Währenddessen sammelte ich unsere Schalen ein und folgte ihr.
Mamã", setzte ich leise an.
„Es ist alles in Ordnung, Joella", unterbrach sie mich ebenso leise und strich mir über die Schulter. Doch ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Ich hatte sie schon lange nicht mehr lachen gesehen.
„Ich bringe jetzt eurem Vater sein Bier."
Seufzend blieb ich in der Küche zurück und begann, das Geschirr zu spülen. Für eine Spülmaschine hatte unser Vater kein Geld übrig bzw. wollte er nicht haben.

Später waren wir zu dritt in der kleinen Küche und hatten das alte Radio laufen. Ich spülte, Ma trocknete ab und Tabea saß auf der schmalen Bank und blätterte in einem großen Buch, das hauptsächlich aus Bildern bestand. Ich erzählte von meinem Tag in der Arbeit, machte den ein oder anderen Kunden nach und versuchte meiner Ma ein Lächeln zu entlocken, während sie Wäsche zusammenlegte.
„Tabea Mariella, du gehört längst ins Bett." Sie scheuchte meine kleine Schwester auf und brachte sie in ihr Zimmer.

Etwas weckte mich. Müde öffnete ich die Augen.
„Joella." Meine kleine Schwester stand vor meinem Bett und trat von einem Fuß auf den anderen. Was machte sie um Mitternacht bei mir? Es dauerte keine zwei Sekunden, bis ich den Grund wusste. Denn ein Teller flog gerade krachend gegen die Wand, so hörte es sich jedenfalls an.
Ich rutschte auf die Seite und hob meine Decke an. Schnell schlüpfte sie zu mir.
„Es ist alles in Ordnung, pato." Ich umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
„Ich bin bei dir, meine Süße."
Er brüllte.
„Mach dir keine Sorgen."
Pause.
Ich fühlte wie versteift sie war. „Wie macht meine kleine pato?", flüsterte ich in ihr Ohr. Es war ein altes Ritual zwischen uns. Sie schnatterte wie eine kleine Ente.
„Genau, kleine pato." Ich sah ihr leichtes Lächeln trotz der Dunkelheit. Ich kniff sie leicht in die Seite.
„Kleine Enten brauchen keine Angst haben."
„Ja", sie nickte. Ich strich ihr die Haare aus der Stirn.
Wieder hörten wir ihn brüllen.
„Schlaf jetzt."
„Singst du für mich?", flüsterte sie fragend in die Dunkelheit.
Ich zog sie enger an mich und tat wie sie wollte.
Irgendwann merkte ich wie sie in den Schlaf glitt, doch unser Vater tobte immer noch.
Ich konnte nichts anderes, als dazuliegen und nichts zu tun.
Ich konnte Mamã nicht helfen. Ich konnte nichts tun.
Früher hatte ich es gewagt.
Und die Narben hatte ich immer noch.

Staying aliveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt